Aiginger: "Wohlstandsgewinn für die Jungen"
KURIER: Herr Professor Aiginger, die 60-Jährigen bilden wohl die glücklichste Generation, die je in Österreich gelebt hat: Kein Krieg, wachsender Wohlstand, grenzenloses Europa. Ist diese Phase vorbei?
Karl Aiginger: Es stimmt, die Wachstumsraten der Wirtschaft werden künftig niedriger sein als früher. Wir reden von ein bis 1,5 Prozent Zuwachs. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil, weil wir eine sehr reiche Gesellschaft sind. Die heutige Jugend ist doppelt so reich, wie wir es als junge Leute waren.
Rein statistisch, im Schnitt gesehen?
Ja, aber wir sind reicher. Die Leute haben heute früher eine Wohnung, sie gehen früher auf Reisen. Ich bin mit 20 Jahren das erste Mal alleine ins Ausland auf Urlaub gefahren, mit 25 das erste Mal im Flugzeug gesessen und habe mir erst nach einigen Jahren Berufstätigkeit eine eigene Wohnung leisten können. Die Verteilung ist ungleicher geworden, aber auch die absolute Armut ist stark zurückgegangen.
Es ist schwieriger geworden, ein Vermögen aufzubauen oder eine Eigentumswohnung zu kaufen.
Ja, aus dem Einkommen, eine Wohnung zu kaufen ist schwieriger geworden. Aber die Wahrscheinlichkeit einer Erbschaft ist auch viel größer geworden als früher. Ein Kredit hatte einen Zinssatz von mehr als 10 Prozent und war schwer rückzahlbar.
Wenn wir mehr Gleichheit und mehr Wirtschaftswachstum haben wollen, dann wäre das sinnvoll. Alle kapitalistischen Länder haben hohe Erbschaftssteuern inklusive Schweiz, USA und England, aber deutlich weniger Steuern auf Löhne und Unternehmereinkommen.
Wir leben also in einem Staat, der bevormundet, anstatt Chancen zu geben?
Wir suchen den Schutz durch den Staat, aber er dient nicht dazu, uns zu stärken, unsere Fähigkeiten auszubauen. Wir leben ja in drei Zeitenwenden: Erstens vom nationalen zum internationalen Denken. Viele Probleme können nur noch global gelöst werden. Der syrische Bürgerkrieg hat Hunderttausende nach Europa gebracht. Die zweite Zeitenwende ist die vom schützenden Staat zum investierenden. Der Staat ist verantwortlich für eine ordentliche Ausbildung, kann aber keine Jobs mehr garantieren. Ausbildung bringt Beseitigung der Ungleichheit der Startchancen. Über 50 Prozent der Wirtschaftsleistung läuft über staatliche Ausgaben, 20 Prozent der Jugendlichen können trotzdem nicht lesen, neue Wohnungen entsprechen nicht den ökologischen Standards, Dienstautos sind Benzinfresser. – Der dritte Umbruch ist das Ende des fossilen Zeitalters. In zehn Jahren kann es Elektroautos geben, die billiger sind als die derzeitigen Diesel und Benzinautos, die nur mit Tricks die Standards einhalten können. Ohne Reduktion der CO2-Emissionen um 80 Prozent kann die Erwärmung nicht unter 2 Grad gehalten werden, und dann gibt es keinen Skisport mehr in den Voralpen, und die Gletscher schmelzen.
Der Staat kann nicht mehr für alles zuständig sein, aber die Politik verschweigt das und andere Wahrheiten. Eine Demokratiekrise?
(Zögert.) Wir haben heute eine andere Demokratie, aber ich bin froh, dass man heute nicht mehr unbedingt ein Parteibuch braucht. Vor 50 Jahren haben Sie ohne Partei keine Anstellung bekommen.
Früher gab es Fixpunkte, die Sicherheit gaben: Kirche, Familie, Arbeitgeber, etc.
Die einzige Sicherheit, die man hat, ist eine gute Ausbildung, dazu Freunde, Netzwerke und Informationen über das Internet. Jede(r) hat mehr soziale Kontakte als früher. Es gibt mehr Wahlmöglichkeiten, aber es sind nicht alle bereit, sie zu nützen und nicht alle fähig dazu.
Kommen wir zu den Wirtschaftsdaten. Die Wirtschaft wächst nicht, die Arbeitslosigkeit schon, Österreich fällt in vielen Rankings zurück.
Das gilt für die letzten drei, vier Jahre, davor war Österreich in einer Erfolgsphase.
Was ist passiert?
Wir wurden zum zweitreichsten Staat in der EU, weil wir die Ostöffnung genützt haben, kaum Streiks hatten und schrittweise Reformen machten. Die Forschungsquote ist von ein auf drei Prozent gestiegen. Aber es ist nicht gelungen, die Budgets so zu entrümpeln, um genug Geld für Zukunftsausgaben zu haben. Wir geben zu viel Geld für Pensionen aus und die Vielfachverwaltung, ob in Schule oder Gesundheit.
Das hören wir seit vielen Jahren, warum schafft Österreich keine Verwaltungsreform?
Nein, aber die Interessensvertretungen tun so. Es dauert eben, bis eine Beamtengewerkschaft oder Pensionistenverbände kapieren, dass sie nicht alles durchsetzen können. Da bräuchte die Politik Leadership.
Es gibt ein großes nationales Rätsel: Warum streben viele Österreicher, und ich rede nicht von Bauarbeitern mit Rückenproblemen, in die oft frühe Pension?
Österreicher sind keine Einkommensmaximierer. Viele meinen, wir sind nicht nur zum Arbeiten da, sondern auch, um das Leben zu genießen. Das ist nicht unsympathisch. Wir sind in der Mitte zwischen dem mediterranen Ländern und Nordeuropa. Griechenland hat höhere Pensionszahlungen. Die Staatsausgaben und die Besteuerung von Leistungseinkommen sind zu hoch, deshalb wachsen die Nettolöhne nicht mehr.
Seit sechs Jahrensteigen die Löhne nicht mehr.
Ja, dazu trägt auch die Steuerprogression bei. Und trotzdem gibt es leider keinen Druck auf die Verwaltung, dass sie effizienter werden muss. Niemand sollte mehr sagen, wir brauchen mehr Geld für Justiz, Polizei, Kinder, Flüchtlinge, ohne zu sagen, wofür er stattdessen weniger ausgeben will. Ich wünsche mir ein Ende der populistischen Aussagen von rechts und links, bitte.
Es gibt die Merkel-Formel: Europa hat 5 Prozent der Weltbevölkerung, 25 Prozent der Wirtschaftsleistung und 50 Prozent der Sozialausgaben.
Wir werden uns die Sozialausgaben leisten können, wenn wir in die Zukunft investieren und nicht für den eingetretenen Unglücksfall bezahlen: Mehr Ausgaben für Schule und Prävention gegen spätere Reparaturausgaben. Wir sollten nicht zulassen, dass 15-Jährige immer dicker werden, saufen und bald eine neue Hüfte brauchen. Auch da brauchen wir mehr Eigenverantwortung, nicht durch Strafen, sondern Anreize. Wer raucht, zahlt eine höhere Versicherung für Lungenkrebs. Derzeit sind Steuern auf Rauchen und Umweltbelastungen geringer als in anderen Ländern und geringer als im Jahr 2000.
Industrie 4.0: Da fallen Jobs weg, entstehen genug neue?
Natürlich brauchen wir weniger Bankangestellte, aber dafür werden Apps entwickelt. Wir werden in Summe nicht weniger Arbeitsplätze haben.
Wir werden neue Arbeitsplätze für Flüchtlinge brauchen, auch für weniger gut ausgebildete.
Im bisherigen Ausmaß können wir das managen, wenn wir eine gute Arbeitsmarktpolitik machen. Also einerseits Ausbildung, und andererseits müssen Jobs angenommen werden. Es gibt in Wien zu wenig Taxifahrer, zu wenig Betreuung älterer Personen. Zu wenige Möglichkeiten, am Wochenende etwas einzukaufen.
Die Gesellschaft wird auch multireligiös. Gut für die Wirtschaft?
Der Nationalismus hat uns in Europa in Kriege geführt, und plötzlich werden nationalistische Parteien wieder stark und nationalistische Parolen in vielen Ländern populär.
In Phasen der Unsicherheit geht man gerne zurück zu alten, vertrauten Modellen. Wir haben uns doch auch vor der Ostöffnung gefürchtet, etwa Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie, in Wahrheit haben wir eine positive Handelsbilanz bekommen. Wir haben von der Internationalisierung profitiert, alle fünf Jahre hat sich ein neuer Markt geöffnet. Jetzt müssen wir in bestehenden Märkten in die Tiefe gehen und dort höhere Marktanteile erkämpfen, das ist schwieriger. Wir fallen aus drei Gründen zurück: Wir wachsen nicht mehr beim Export, wir haben zu wenig in die Faktoren investiert, die für eine hochwertige Wirtschaft entscheidend sind – und drittens: Der Verwaltungssektor ist zu groß.
Heißt das weniger Macht für die Landeshauptleute?
Gerade bei der Entscheidung über Jobs sollte kein Politiker Macht haben, wenn ich an die Schule denke, Schulen sollten auch keine geschlossenen Anstalten sein. Wenn ich nach meiner Pensionierung an einer Schule Wirtschaft lehren möchte, würde man mich sofort ablehnen.
Das Wirtschaftswachstum werden wir nur durch Exporte halten können, aber wohin?
Unsere Nachbarn sind der Nahe Osten und Afrika, trotz aller Probleme. In Nordafrika ist die Wirtschaft immerhin um fünf Prozent gewachsen. Ein Amerikaner in Stanford hat mir gesagt, ihr glaubt, ihr seid eine alternde Gesellschaft und habt keine Rohstoffe, dabei ist Afrika in der Nähe, und junge Einwanderer kommen gerne. Schüler sollten ein Jahr ins Ausland gehen. Früher sind wir nach Amerika gegangen, warum bieten wir das nicht den Ägyptern oder der Ukraine? Ich würde das Hayek-Stipendien nennen, nach unserem Nobelpreisträger. Europa kann den Wohlstand nur bei Zuwanderung halten.
Aber sind wir bereit für die notwendigen Veränderungen?
Ein chinesisches Sprichwort sagt, wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen Windmühlen. Wenn ich sehe, was die Zivilgesellschaft gerade leistet, bin ich optimistisch. Um auf den Beginn zurückzukommen: Die Jugend von heute wird einen Wohlstandsgewinn erleben. Wir müssen die Jugend befähigen, nicht bremsen. Das Potenzial der Jugend zur positiven Veränderung ist da – und auch der Optimismus.
Professor Dr. Karl Aiginger (67) ist seit 2005 Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts. Sein Institut arbeitet an einem EU-Projekt WWWforEurope: Wie Wachstum und soziale Sicherheit in Europa erhalten werden können. Das Projekt erarbeitet europaweit Strategien für „Welfare, Wealth and Work“ (Sozialstaat, Wohlstand, Arbeit), die im Februar vorgestellt werden.