Atkinson: "Vermögen neu besteuern"
Von Michael Bachner
KURIER: In vielen Ländern geht die Einkommensschere massiv auf. Spitzenverdiener lassen die Bezieher niedriger Einkommen Lichtjahre hinter sich. Welche Konsequenzen erwarten Sie? In welcher Hinsicht hat die Schuldenkrise die Situation noch verschärft?
Anthony Atkinson: Das hat natürlich viele Konsequenzen. Eine Konsequenz ist, dass der Wohlstand vieler Bürger stagniert bis zurückfällt, während sie die Spitzeneinkommen davonjagen sehen. Daher haben in vielen Ländern die Gegner der reinen Sparpolitik auch so starken Zulauf. Das hat in Griechenland oder Spanien extreme Formen angenommen, greift aber auch in anderen Ländern um sich. Dadurch büßt die Politik insgesamt an Legitimität ein.
Die Medien sind voll von Menschen, die in einem Jahr mehr verdienen als Normalverbraucher im ganzen Leben. Streiks und wilde Demos wie in Griechenland und Spanien sind das eine. Aber gefährdet das nicht das System als Ganzes?
Immer mehr Menschen beginnen zumindest an diesem System zu zweifeln. In Großbritannien verdienen Vorstandschefs im Schnitt das Vierhundertfache des Mindestlohns. Natürlich denken die Leute, dass der Boss eines großen Unternehmens auch mehr verdienen sollte, aber beim Vierhundertfachen hört sich einfach jedes Verständnis auf. Dazu kommt, dass die Einkommensschere erst mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems im Osten so richtig aufzugehen begonnen hat. Vorher hat der Wettbewerb der Systeme bewirkt, dass die Einkommens-Ungleichheit in den meisten Ländern des Westens zurückgegangen ist – und nicht gestiegen ist wie heute. Der Anteil der Top-Einkommen am Gesamtkuchen war seit dem dem Zweiten Weltkrieg gefallen, heute steigt er deutlich an. Die Kurve hat eine charakteristische U-Form.
Wie sehen Sie die europaweite Diskussionen über Reichensteuern? Ist das ein sinnvoller oder ein rein populistischer Ansatz?
Was wir vorher über den Anteil der Top-Einkommen am Gesamteinkommen gesagt haben, gilt im genauen Gegenteil für die Top-Steuersätze. Bis in die 1930er-Jahre waren die Spitzensteuersätze überall 50, 60, 70 Prozent. Das blieb so bis in die 1980er-Jahre und drehte sich danach um. Die Spitzeneinkommen explodierten, die Spitzensteuersätze gingen runter.
Was kann und sollte man jetzt politisch tun?
Man muss unterscheiden, ob wir von der Einkommens-Besteuerung reden oder von der Besteuerung von Vermögen. Früher war das ganz klar: Wer Leistung erbrachte und dafür Einkommen bezog, wurde mit maximal 50 Prozent besteuert. Wer aber Einkommen bezog, ohne dafür Leistung zu erbringen, etwa aus Zinsen oder Dividenden, wurde höher besteuert. In Großbritannien seinerzeit um 15 Prozentpunkte mehr. Das sollte man sich neu überlegen. Genauso im Bereich des Besitzes von Vermögen, wo es fast in allen Ländern Erbschafts- und Schenkungssteuern gab – aber heute eben nicht mehr. Das ist unfair in verschiedenster Hinsicht.
Sehen Sie Österreich als Problemland an? Auch hier wurde die Erbschafts- und Schenkungssteuer abgeschafft. Und der Faktor Arbeit ist besonders hoch belastet, während es kaum noch vermögensbezogene Steuern- und Abgaben gibt...
Ich würde Österreich nicht als spezifischen Problemfall sehen. Verschiedenste Länder sind diesen Weg gegangen. Was heutzutage jedoch dazukommt, ist der Umstand, dass Kapitalvermögen immer leichter ins Ausland transferiert werden kann und sich so der Besteuerung im Heimatland entzieht. Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo das nicht so leicht möglich war, die Banken hätten das gar nicht gemacht. Heute ist das schon sehr einfach geworden.
Österreich hat dazu Steuerabkommen mit der Schweiz und Liechtenstein abgeschlossen.
Ja, aber eigentlich müssten hier europäische, wenn nicht überhaupt globale Lösungen gefunden werden. Mein Gefühl ist, wir bewegen uns – wenn auch sehr langsam – in Richtung einer Welt-Steuer-Organisation.
Weil Sie Europa ansprechen: Kann es wirklich so weit kommen, dass Ihr Land, Großbritannien, aus der EU austritt?
Ich glaube, wir haben ein ernsthaftes Problem an politischer Führungsqualität. Der Austritt könnte passieren, obwohl ihn niemand wirklich will. Problematisch ist natürlich, dass die aktuellen Krisenerscheinungen die EU-Gegner massiv stärken.
In vielen Ländern werden aus Budgetknappheit Einschnitte im Sozialbereich gemacht. Der richtige Weg aus der Krise?
Das variiert stark von Land zu Land, aber die Belastungen sind generell ungleich verteilt. Junge Menschen und Familien mit Kindern trifft es in der Regel wesentlich härter als ältere Menschen. Das hat natürlich ernsthafte Folgen für die Generationen-Gerechtigkeit. Meine Generation mit den vielen Boom-Jahren in den 1950er- und 1960er-Jahren ist eine bevorzugte Generation. Wir könnten also durchaus mehr beitragen.
ZUR PERSON: Oxford -Professor Anthony Atkinson, Jahrgang 1944, gilt als einer der bedeutendsten Ökonomen für Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung weltweit. Nach ihm ist das sogenannte „Atkinson-Maß“ zur Messung sozialer Ungleichheit benannt. Er gilt als Verfechter des europäischen Wohlfahrtsstaates und tritt auch als Autor und Politikberater auf. Er hat diverse hohe Auszeichnungen und insgesamt 18 Ehrendoktortitel gesammelt. Auf Einladung der Arbeiterkammer war Atkinson vergangene Woche Stargast bei den Wiener Stadtgesprächen.