Mindestlohn – Fluch oder Segen?
Von Anita Staudacher
Deutschland steht vor einem historischen Schritt: Einigt sich die künftige Regierungskoalition, gibt es erstmals eine gesetzliche Lohnuntergrenze über alle Branchen. Diese soll bei 8,50 Euro pro Stunde festgelegt werden. Bei einer 40-Stunden-Woche ergäbe dies einen ungefähren Monatslohn von knapp 1500 Euro brutto. Deutschland läge damit deutlich unterhalb des Mindestlohnniveaus in anderen westeueropäischen Staaten (siehe Grafik).
Schon 21 der 28 EU-Länder haben gesetzlich verankerte Mindestlöhne, Österreich ist nicht darunter. Im Sozialpartner-Vorzeigeland arbeiten mehr als 90 Prozent der Arbeitnehmer unter dem Schutz eines von Arbeitgebern und Arbeitnehmern verhandelten Kollektivvertrages. Experten sprechen vom „funktionalen Mindestlohn“.
Von mindestens 1500 Euro brutto, wie von den Grünen als gesetzliche Untergrenze gefordert, ist Österreich (noch) weit entfernt. Erst etwa die Hälfte aller Kollektivverträge (KV) sehen Einstiegsgehälter von 1500 Euro brutto und mehr vor – etwa bei den Metallern – , immerhin zwei Drittel haben einen Mindestlohn von mehr als 1300 Euro realisiert. „Die 1300 Euro werden wir schon bald erreichen, die 1500 Euro streben wir an“, sagt Gewerkschafter Bernhard Achitz.
Niedriglöhne
Am weitesten verbreitet sind Niedriglöhne im Tourismus, etwa Servierkräfte (ohne Trinkgeld) Abwäscher etc., bei freien Berufen, Bäckereien oder Konditoreien sowie bei Friseuren. Mit rund 15 Prozent aller Beschäftigen ist der so genannte Niedriglohnsektor aber deutlich kleiner als in Deutschland mit 24 Prozent. Wie hoch ein gesetzlicher Mindestlohn in Österreich sein könnte, wagen selbst Experten nicht zu beziffern. „Warum soll das die Politik besser festlegen können als die Sozialpartner?“, fragt IHS-Arbeitsmarktexperte Helmut Hofer und lehnt einen gesetzlichen Mindestlohn ab. Die Grünen verweisen auf die steigende Anzahl jener, die von ihrer Arbeit nicht leben können, besonders Frauen und Migranten.
Der KURIER fasste die wichtigsten Vor- und Nachteile zusammen:
Ausgleich Ein Mindestlohn würde auch jene „weißen Flecken“ am Arbeitsmarkt erfassen, die jetzt nicht über KV reguliert sind.
Job-Anreiz Der Anreiz für Arbeitslose, auch einen schlecht bezahlten Job anzunehmen, würde steigen, weil der Abstand zur Sozialleistung größer wäre als jetzt. Der Staat würde sich Sozialleistungen ersparen.
Kaufkraft Ein Mindestlohn von 1500 Euro würde das Lohnniveau heben und die Kaufkraft ankurbeln, wodurch ebenfalls neue Jobs entstehen und mehr an Sozialabgaben geleistet werden.
Arbeitskosten Gesetzliche Mindestlöhne gefährden Arbeitsplätze, warnen hingegen Wirtschaftsvertreter. Steigen die Löhne abrupt, lohnt es sich im Niedriglohnsektor oder für Einzelunternehmer nicht (mehr), jemanden anzustellen, etwa bei Friseuren, die dann lieber ohne Personal arbeiten. Noch mehr Jobs könnten ins billigere Ausland wandern.
Verlierer Die Arbeitswelt ist derart vielfältig, dass ein flächendeckender Mindestlohn niemals für alle passt. Verlierer könnten ausgerechnet jene sein, denen er helfen soll. Schwarzarbeit dürfte zunehmen.
Politeinfluss Eine gesetzliche Lohnfestsetzung würde die Sozialpartnerschaft massiv schwächen und wäre wahltaktischen Manövern der herrschenden Parteien ausgesetzt. „Bei gesetzlichen Mindestlöhnen ist es viel schwieriger, Mindeststandards für einzelne KV zu verhandeln“, meint Achitz.