Nachhilfe vom Startenor
Die Sängerin erzittert. Sie breitet die Arme weit aus, sieht zur Decke und haucht einen lieblichen Ton. Pause. Der Pianist schlägt tiefe, düstere Harmonien an, das Tempo erhöht sich. Sie hält sich am Flügel fest, macht große, schnelle Schritte zum Publikum, bleibt abrupt stehen und kippt fast vorne über – Gänsehaut, als ihr Sopran das hohe C hält und damit das Kellergewölbe ausfüllt.
Ihr gegenüber lehnt ein älterer Herr in weitem Hemd und Leinenhose an der Wand. Immer wieder geht er einen Schritt zurück, um ihrer Vorstellung Raum zu geben. Sein Blick lässt nicht von ihr ab, durchdringt sie und sucht – fast vergeblich – nach Potenzial nach oben. "Très bon" sagt er leise, nach ihrem letzten gesungenen Ton. Dieser Mann ist Star-Tenor Giacomo Aragall, die rumänische Opernsängerin Andreea Minculescu Teclu heute seine Schülerin. Sie und 14 ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt fanden sich diese Woche zum Opernworkshop des Maestros im Bösendorfer-Saal des Mozarthauses in Wien zusammen, um mit ihm ihre aktuellen Rollen zu perfektionieren. Von Montag bis Freitag konnten Interessierte die Zusammenarbeit beobachten.
Auf den Maestro hören
Wer diese Meisterklasse besucht, bekommt vom Profi nur mehr den letzten Schliff verpasst: das Gefühl. Das zu erlernen kann mitunter unangenehm sein – manche Sänger unterbricht Aragall alle paar Sekunden. Er hebt die Hand und sagt schlicht "No", nur um sogleich selbst vorzumachen, wie es klingen soll. Dann weiß jeder im Saal: so und nicht anders. Sein Timbre – unverkennbar, seine Stimmgewalt – imponierend. Jedes Wort und jede Note der Arien seiner Schüler kann er aus dem Gedächtnis abrufen. Mehr als 40 Rollen spielte er, die Arien der anderen lernt man da automatisch mit.
Beim Unterrichten der Nachwuchs-Künstler zeigt er Geduld. Er studiert mit ihnen die Noten, zieht den Pianisten zurate, hat Tipps für Sopran und für Tenor. Dem Einen gibt er sie in Französisch, dem Nächsten auf Italienisch. Manchmal rezitiert er die Textzeile behutsam, um ihre Essenz zu verdeutlichen. Die Sänger müssen ihr Stück verinnerlichen, um zu verstehen, was sie auf der Bühne vermitteln sollen. Nur so könnten sie Perfektion erlangen, sagt Sopranistin und Nachwuchs-Star Cristina Antoaneta Pasaroiu, die zu Besuch aus Nizza kam. "Was Sie auf der Bühne sehen, ist keine Show. Das ist die pure Wahrheit. Wenn ich singe ,ich liebe dich‘, meine ich es in dem Moment auch so." Die 27-Jährige durfte schon ganz jung die großen Rollen, etwa die Violetta in "La Traviata" oder die Mimi in "La Bohème", singen. Der Arbeitsalltag eines Opernsängers ist "hart", sagt sie: Fünf Stunden am Tag trainiert sie Stimme und Körper, sieben Sprachen lernte sie für ihre Stücke, sie lebt wegen internationaler Engagements aus dem Koffer und sieht ihre Eltern einmal im Jahr.
Aragall ist einer ihrer zwei Mentoren, er verhalf ihr zum Erfolg. Nur zwei Mal im Jahr coacht er sie – das reiche, um ihr neue Inspiration zu geben. "Jeder, der keine mittelmäßige Karriere anstrebt, braucht einen Maestro. Man muss glücklich darüber sein, dass es solche Leute gibt", sagt Pasaroiu.
Wer mit 27 Jahren in diesem Geschäft oben ist, muss es nicht zwangsläufig bleiben. Einerseits braucht es dazu den richtigen Agenten. Andererseits Demut. Pasaroiu: "Heute ist vieles gemacht, die Jungen inszenieren sich zu sehr. Ich nicht. Ich versuche schlicht die beste Leistung abzurufen, die ich abrufen kann."
Benefizgala:Am 20. Juni findet ab 15.30 Uhr im Musikverein ein Benefizkonzert mit Giacomo Aragall und seinen "Meisterschülern" statt. Der Reinerlös wird für die Behandlungskosten der erkrankten Mutter von Pasaroiu gespendet. Karten gibt’s vor Ort.
Star-Tenor Luciano Pavarotti sagte einst über Aragall: „Es gibt drei große Tenöre unserer Zeit. Plácido, Aragall und mich. Aragall war wahrscheinlich der Beste von uns.“ Maestro, wie Giacomo Aragall (Jaume Aragall i Garriga heißt er mit bürgerlichem Namen) stets angesprochen wird, wurde vor 76 Jahren in Barcelona, Spanien, geboren. Er debütierte mit 24 Jahren in Guiseppe Verdis „Gerusalemme“ am Teatro La Fenice in Venedig. Mit 25 Jahren sang er – als jüngste Tenor – bereits an der Mailänder Scala.
Er ist Kammersänger der Wiener Staatsoper und Ehrendoktor an der Universität Girona. Sein Können gibt er seit Jahren in den Meisterklassen an aufstrebende Nachwuchssänger auf der ganzen Welt weiter. 1994 gründete er den Gesangswettbewerb „Concurs Internacional de cant jaume Aragall“. Am 1.1. 2016 feiert er an der Wiener Staatsoper sein 50. Bühnenjubiläum – über 160 Auftritte hatte er hier. Für sein Werk bekommt er dort deshalb am 23. Juni das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse verliehen.