Digitale Wahnsinnstaten vermeiden
Von Sandra Baierl
In den Social Media sind die Menschen mitunter ziemlich unsozial. Sie lassen ihre Hüllen fallen, schreiben, was sie niemals sagen würden. Ein breites Phänomen – nicht nur bei Wiener Stadtpolitikern. Warum aber sind Menschen völlig enthemmt, wenn sie eine Botschaft auf Facebook, Twitter oder sonstwo im Netz hinterlassen? Und warum wird so wenig an die Konsequenzen einer Wortspende gedacht? Wir fragen bei einer digitalen Therapeutin nach. Ja, so etwas gibt es. Die (echte) Expertin heißt Anitra Eggler. Sie schreibt Bücher und gibt Vorträge zu ebendiesem Thema: wie sich Menschen mit und in der digitalen Welt verhalten. Ihr schonungsloser Befund: "Social Media machen blöd, blind und erfolglos – es sei denn, man setzt den kritischen Menschenverstand ein." Social Media verführt zu digitalen Wahnsinnstaten, "weil die Menschen die Öffentlichkeit und die fehlende Privatheit nicht als solche wahrnehmen und die möglichen Konsequenzen massiv unterschätzen. Das ist digital naiv".
Naiv und hilflos
Warum aber sind Menschen im täglichen Leben patent, in der digitalen Welt jedoch völlig losgelöst von allen guten Sitten und Geistern? Es klingt banal, ist banal aber oftmals in der Folge fatal: "Weil die vielen Mitleser, ’Freunde’, als Freunde-getarnte-Ex-Freunde und Feinde nicht sichtbar sind, wenn man dauererregt und likegierig postet", sagt Eggler. Es gebe beim Posten keinen Filter – und die eigene Sensibilität sei wenig selbstkritisch, wenn es nach Likes giert. Hinzu kommt: "Wenn der amerikanische Präsident damit durchkommt...", so Eggler. Die Hemmschwelle wird durch solche Vorbilder immer niedriger. Im Gehirn spielt sich dabei übrigens ein Szenario wie bei einem Drogenabhängigen ab: die Erwartung einer Like-Dusche gibt den totalen Kick. Kommen Likes, wächst das Ego. Das ist der Grund, warum Social Media uns so anfixen.
Was geht sicher nicht?
Anitra Eggler sagt klar: "Alles, was man nicht in der Tageszeitung lesen will. Und alles, was die Reputation für immer ruiniert". Sie verweist auf zwei prominente Personen, die ihre Karriere mit einem Posting abrupt zum Stillstand gebracht haben: Thomas Köppel, Bürgermeister von Quickborn, der einen Computer-Screenshot des Grundgesetzes gepostet hatte. Und darauf vergaß, dass auf seinem Computer mehrere Hardcore-Pornoseiten geöffnet waren – die er unabsichtlich mitpostete. Und Anthony Weiner, Bürgermeister-Kandidat von New Yorker, der durch "Sexting" (Googeln Sie: Weiner und Sexting, es gibt einen eigenen Wikipedia-Eintrag!) zur Berühmtheit und miesesten Reputation aller Zeiten kam. In den sozialen Medien helfe nur eines: "Erst denken, dann posten", so die Expertin. Man müsse: sich selbst misstrauen, niemals im Affekt posten, sich in Reflexion statt Reflex üben, sich selbst kritischer hinterfragen. "Im Zweifelsfall muss man eine Nacht darüber schlafen und sich ausmalen, wie der schlimmst anzunehmende Feind das Posting in eine Scheißsturm-Vorlage verwandeln könnte", so Eggler. Und noch etwas: vor dem Posten sollte man sich fragen: Habe ich überhaupt was zu sagen? Jetzt? Um diese Uhrzeit? In diesem Zustand? Der Grat zwischen "das muss ich jetzt posten" und "ich sollte einen Psychiater anrufen" ist sehr schmal, erklärt die Expertin.
Shitstorms verhindern
Mit diesen selbstauferlegten Maßnahmen könne man Shitstorms verhindern – und seine Karriere ungestört weiter verfolgen. Apropos Shitstorm: Diese Entrüstungswellen seien immer stark von der Doppelmoral derjenigen angetrieben, die selbst Dreck am Stecken haben, den Moment aber nützen, um enthemmt anzuprangern und gnadenlos zu richten. Der eingangs erwähnte Wiener Stadtpolitiker hat ebendas ausgelöst, in Wahlkampfzeiten noch dazu. Und seinen Job gerade noch – mit Einsicht und Entschuldigungen – retten können.