Wirtschaft/Karriere

Der oberste Richter spricht

Die Flunkerjuristen, die blumig formulierten, sind seine Sache nicht. So einer könnte er nie sein. Eckart Ratz ist ein mathematischer Denker, nüchtern und logisch. Wenn er in seiner persönlichen Meinung nicht mit dem Gesetz übereinstimmt, wäre das zwar „hundig“, aber „technisch kein Problem“. Man müsse seine Person von seinem Amt trennen können. Seine Arbeit macht er sehr genau, sehr akribisch. Das komme aus der wenig glorreichen Schulzeit, die er versucht, damit wett zu machen: Er war ein schlechter Schüler.

Für Aufsehen sorgte die jüngste OGH-Entscheidung, wonach Unis für Studienverzögerungen haften müssten.

KURIER: Herr Doktor Ratz, bekommen Sie viele Dankesmails von Studierenden in diesen Tagen?

Eckart Ratz: ... Ach so, wegen dieser Entscheidung über die Unis. Der OGH-Präsident ist nicht der Beherrscher der Rechtssprechung des OGH. Ich habe bei Senatsentscheidungen nichts dreinzureden, soll nicht einmal kommentieren. Ich könnt’ einiges dazu sagen, tue es aber nicht. Ich bekomme keine Mails – zu Recht nicht.

Sie wollen doch aber mehr sein als der Repräsentant dieses Hauses.

Ich bin Jurist und weiß, dass maximale Formstrenge zu maximaler Freiheit führen kann. Mehr sein, als das Gesetz erlaubt, will ich nicht. Aber innerhalb des Gesetzes will ich etwas bewirken. „Jeder Mensch hat seine Rolle zu spielen, denn wenn er sie nicht spielt, spielt er keine“, hat mein Lehrer gesagt. Der Job der inneren Justizverwaltung ist einfach. Ich bin nicht auf Gewinn ausgerichtet, mich kontrolliert niemand. Von 110 Leuten im Betrieb sind 58 Richter, denen ich nix sagen darf. Anders ist die kollegiale Justizverwaltung: Personalentscheidungen, Begutachtung von Gesetzen et cetera.

Vor wem müssen Sie sich verantworten?

In der kollegialen Justizverwaltung muss ich mich nur vor meinem Gewissen verantworten. Sonst ist der OGH dem Justizministerium attachiert. Es gibt aber keine Dienstaufsicht der Ministerin mir gegenüber. Aber sie hat das Budget.

Wie ist das, wenn man als Oberster Richter das letzte Wort hat, niemand widersprechen kann?

Das lernt man, wie ein Arzt, der operiert, da kann in der Situation auch niemand widersprechen. Das ist auch kein Problem, weil man im Laufe der Karriere sozialisiert wird. Man beginnt am Bezirksgericht, da reibt man sich mit der Oberinstanz. Bei mir war das konfliktträchtig, das hat mir eine Zeit lang die Karriere gebremst. Das Oberlandesgericht wollte mich als Bewerber nicht nehmen.

Sie waren zu unangenehm?

Ja. Und ich verstehe, dass man das nicht will. Wenn der in der Unterinstanz eine andere Meinung hat als ich in der Oberinstanz, dann hat der untere per Definition eine „falsche“ Meinung. Da muss man als arrivierter Richter schon schlucken, bevor man zugibt, dass der Kollege in der unteren Instanz recht hat. Da muss man schon ziemlich gut und innerlich ziemlich frei sein. Jemand der widerspricht ist unbequem.

Wieso haben Sie sich trotzdem durchsetzen können?

Ich habe mich nicht durchgesetzt, es haben sich andere für mich durchgesetzt. Das hat man nicht in der Hand. Ich habe mich drei Mal beim Oberlandesgericht Innsbruck beworben, bin drei Mal gescheitert. Aber ich war ja auch ein miserabler Schüler. Im Nachhinein weiß ich: das war nicht so toll, das war schlicht unreif.

Sie haben das offenbar geändert.

Ich habe lange aus Unreife nicht erkannt, dass es sich lohnt, sich einzusetzen. Als ich aus der Schule geflogen bin, wurde ich am Jesuitengymnasium in Feldkirch angenommen. Man hat dort mit mir nachgelernt, Latein, Mathematik – und plötzlich habe ich im System denken können. Das war ein liberaler Boden, wo andere Meinungen zugelassen wurden. Das Gericht war nebenan, da bin ich immer zuhören gegangen.

So haben Sie Ihren Job entdeckt?

Ja, Zivilrichter. Ich wollte nie Strafrichter werden, die sehen manche als Schmuddelkinder. Aber das ist Unsinn. Erstklassige Juristen kennen solche Pauschalurteile nicht, Schwache brauchen sie, um sich dahinter zu verschanzen.

Ihr Stil?

Eher technisch. Mir ging es immer darum, die Sache präzise auf den Punkt zu bringen. Auf Verständlichkeit habe ich früher zu wenig geachtet. Mir war wichtig, dass ich das Problem richtig zu Ende gedacht habe. In der Zwischenzeit weiß ich, dass das abgehoben ist. Ich bin demütiger geworden. Mir hat einmal ein Professor gesagt: „Du willst doch etwas bewirken“. Das kann man aber nur, wenn man verstanden wird. Also: Ich erarbeite den Richterspruch wie eine mathematische Formel, weil ungenau darf’s niemals sein. Aber dann übersetz’ ich’s ins Einfache. Souverän ist nur der, der die Dinge einfach sagen kann.

In Amerika wären Sie der Chief Justice. Das klingt heroisch und groß. Sehen Sie sich so?

Das ist rein technisch der Präsident des Obersten Gerichtshof, der heißt halt so. Chief im Sinne von Caput ist ja okay. Caput heißt Haupt. Im paulinischen Bild gibt es aber auch die Glieder. Der Kopf ist doch nur ein Teil des Gesamtkörpers.

Wie gehen Sie mit der Macht um?

Das geht im Hintergrund ab. Man muss sich Zeit nehmen, über sein Tun nachzudenken.

Wie treffen Sie Entscheidungen? Sind Sie nie unsicher?

Ich bin ständig unsicher. Man muss damit nur umgehen können. Ich blicke auf die Norm, dann auf den Sachverhalt, bilde eine Arbeitshypothese und schaue, ob ich das durchhalte, wenn ich deduziere. In der Methodenlehre nennt man das hermeneutischen Zirkel.

Lagen Sie je komplett falsch?

Von einem Mal weiß ich’s. Das ist mir schmerzlich in Erinnerung. Ich habe ein Problem gelöst, wie es bis dahin gelöst worden ist. Im Nachhinein habe ich gemerkt, es ist logisch nicht haltbar. Ich habe in meinem Kommentar viel dazu geschrieben.

Können Sie als Richter, als Mensch überhaupt unbeeinflussbar sein?

Das wär ja noch schöner. Man muss seine Schwächen kennen. Am ehesten bin ich beeinflussbar, wenn mir jemand unsympathisch ist. Dann passe ich umso mehr auf, dass ich ihm nicht etwas nehme, das ihm zusteht. Wenn man sein Problem kennt, kann man damit umgehen. Mir bereitet eher derjenige Sorge, der nicht erkennt, dass auch er beeinflussbar ist.

Mitleid und Gefühl gibt’s doch immer auch, oder?

Auf der menschlichen Ebene kann man empathisch sein, aber in der Rolle als Richter hat das keinen Platz.

Wieso haben Sie sich nicht für eine Anwaltskarriere entschieden?

Das könnte man ganz banal sagen: Weil ich mit Geld nichts zu tun haben will. Ich bin vom Ansatz her ein Mönch. Das mit dem Geld macht meine Frau.

Sie wissen also gar nicht, wie viel Sie verdienen?

Doch, weiß ich, weil’s im Gesetz steht. Ich verdiene 11.970,5 Euro brutto im Monat.

Ist das angemessen?

Ich hab’ genug. Da geht sich sogar noch ein Urlaub aus (lacht). Ich bin der Meinung, der Richter darf nicht zu viel verdienen. Ich habe kein Risiko und wie alle Richter in Österreich den sichersten Job. Die Unabsetzbarkeit ist was wert. Außerdem muss der Richter mit dem Leben verbunden bleiben. Umgekehrt dürfen Richter auch nicht schlecht bezahlt sein. Man muss aus den Besten auswählen können, Richter müssen finanziell unabhängig sein.

Was fasziniert Sie am Richter-Job?

Ich hatte immer eine totale Funktionslust. Die guten Leute sind durchdrungen von ihrem Fach. Einem Jungen würde ich sagen: Lerne zuerst das solide Handwerk, also ganz genau dein Fach. Dazu gehört unbedingt auch das methodische, erkenntnistheoretische Rüstzeug. Und wenn du das wirklich kannst und juristisch zur Spitze vorstoßen willst, musst du unbedingt über den Tellerrand deines Fachs hinausblicken. Sonst bleibst du ein Fachsimpel, ein Simpel in deinem Fach.

Geboren am 28. Juni 1953, nach eigenen Angaben kein guter Schüler. Er entdeckte das Recht, war fasziniert vom Gericht, das sich gleich neben der Schule befand. 1978 Promotion zum Doktor der Rechte, 1980 Richter Bezirksgericht Feldkirch (Zivilsachen). Ab 1981 für Strafsachen zuständig („hat sich so ergeben“). 1994 Richter des Oberlandesgerichts Wien. Ab 1997 Hofrat des Obersten Gerichtshofs (OGH), 2011 Vizepräsident des OGH, seit 2012 OGH-Präsident. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Strafrecht, Medienrecht und Grundrechtsschutz. Autor und Herausgeber der Wiener Kommentare zum Strafrecht.

Derzeit gibt es in Österreich 1700 Berufsrichter (67,3 Prozent der Richteramtsanwärter und 53 Prozent der Richter sind Frauen). Der Richter steht in einem Dienstverhältnis zum Bund. Er ist bei der Rechtsfindung und Rechtsprechung als unabhängiges Staatsorgan tätig. Diese Unabhängigkeit äußert sich in der Weisungsungebundenheit der Richter, in ihrer Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit. Der Richter ist nur an das Gesetz gebunden, entscheidet nach eigener Rechtsüberzeugung. Er ist auch nicht an frühere Entscheidungen gleicher Rechtsfragen durch andere Gerichte (Präjudizien) gebunden.

Die Ernennung zum Richteramtsanwärter erfolgt durch die Justizministerin aufgrund eines Vorschlags des Präsidenten des Oberlandesgerichts. Zur Aufnahme in den richterlichen Vorbereitungsdienst sind der Abschluss des Studiums, die österreichische Staatsbürgerschaft, die volle Handlungsfähigkeit, die uneingeschränkte persönliche und fachliche Eignung erforderlich. Seit 1986 gehört neben einer schriftlichen Prüfung auch eine psychologische Eignungsuntersuchung dazu.

Einstiegsgehalt eines Richters am Landesgericht: 3536,2 Euro brutto pro Monat (Gehaltsgruppe 1, Gehaltsstufe 1).