Wirtschaft

Flüchtlinge als Chance für Europa

Mit 19 Jahren floh sie vor den Russen aus Afghanistan. Zuerst zu Fuß nach Pakistan, weiter mit gefälschten Papieren über London nach Frankfurt. "Eine Tasche und ein Kleid hatte ich dabei, mehr nicht. Und ich konnte kein Wort Deutsch", erinnert sich Nadia Qani.

Heute ist die Afghanin eine der Vorzeige-Migrations-Unternehmerinnen Deutschlands. In ihrem ambulanten Pflegedienst beschäftigt sie 50 Mitarbeiter aus 23 Nationen, die 37 Sprachen beherrschen. Die Business-Idee ging auf. Pflegebedürftigen Menschen Helfer zur Seite zu stellen, die deren Muttersprache beherrschen. "Kultursensible Pflege" heißt das im Fachjargon.

Leicht war es nicht, in Deutschland Fuß zu fassen, erzählte Qani auf dem "2015 SME Assembly", der Jahrestagung der europäischen KMU (kleine und mittelständische Unternehmen) in Luxemburg. "Ich habe jeden Job gemacht, den ich kriegen konnte – Putzfrau, Babysitterin, Regalbetreuerin." Der Aufstieg zur Unternehmerin gelang, "weil ich sieben Tage in der Woche gearbeitet habe und mich viele Menschen unterstützten". Sozialhilfe, darauf legt die Mutter zweier Kinder und Autorin des Buches "Ich bin eine Deutsche aus Afghanistan", besonderen Wert, habe sie nie bezogen.

Flüchtlinge sind eine große Chance für Europa, vorausgesetzt, sie werden so rasch wie möglich in den Arbeitsmarkt integriert. Darüber sind sich Europas KMU-Vertreter einig. "Die Integration in den Arbeitsmarkt ist das Wichtigste für die wirtschaftliche Selbstständigkeit. Damit muss so rasch wie möglich begonnen werden, sobald die Flüchtlinge den Asyl-Status erhalten", betont Antoine Savary, Experte für Migration und Integration in der EU-Kommission.

Höhere Unternehmerquote bei Migranten

Flüchtlinge seien meist besser qualifiziert als der Großteil der Menschen in ihrem Herkunftsland. Während in der OECD 12 Prozent der einheimischen Bevölkerung selbstständig sind, halten die Migranten bei 12,7 Prozent. Deren Entrepreneurship (Unternehmertum) beschränke sich in der OECD längst nicht mehr nur auf ethnisches Business, sondern sei genau so breit aufgestellt wie unter den Einheimischen, resümiert Savary.

"Wer so initiativ ist, aus seinem Heimatland zu flüchten, der hat auch das Potenzial zum Unternehmer", meint Costas Andropoulos, EU-Experte für Unternehmertum und KMUs.

"Win-win-Situation"

Ulrike Rabmer-Koller, Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer Österreich, spricht von einer "Win-win-Situation". Für die Betroffenen und für das Gastland. Sie ortet unter den Flüchtlingen nicht nur künftige Fachkräfte, sondern auch "ein hohes Potenzial an Unternehmern. Etwa für Geschäfte, die sonst nicht weiter geführt werden".

Die Wirtschaftskammer hat bereits unterschiedliche Projekte aufgesetzt, um Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt einzugliedern und sie zu qualifizieren. So wird bei der gemeinsamen Lehrlingsinitiative mit dem Arbeitsmarktservice (AMS) der Fokus speziell auch auf Asylanten gerichtet. In das Mentoring-Programm für Migranten werden verstärkt Flüchtlinge einbezogen, kündigt Rabmer-Koller an.

Für Europas KMU lichten sich die Wolken am wirtschaftlichen Horizont. Erstmals seit der Finanzkrise 2008 stieg die Zahl der Beschäftigten im Vorjahr um 1,2 Prozent auf 90 Millionen. Für 2016 wird ein Plus von von knapp einem Prozent erwartet, das wären weitere 1,5 Millionen an neuen Jobs.

Innerhalb der 28 EU-Staaten ist die Entwicklung der KMU freilich unterschiedlich. Die gute Nachricht: Österreich zählt neben Deutschland, Frankreich, Schweden und England zu den acht Wachstums-Ländern.

Bürokratie-Abbau

Egal ob in Österreich, England, Deutschland oder im Baltikum. Die 22,3 Millionen KMU in der Europäischen Union haben alle ähnliche Sorgen. Die Forderung nach weniger Bürokratie und weniger Gesetzen steht auf der Wunschliste ganz oben. Gefolgt von der Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten, Visa-Erleichterungen, dem Ausmerzen von Korruption und einer europäischen Förderung von Start-ups. Außerdem: Unternehmerisches Versagen sollte möglich sein, ohne gesellschaftliche Ächtung und wirtschaftlichen Ruin. Elzbieta Bieńkowska, als EU-Binnenmarkt-Kommissarin für die KMU zuständig: „Wir müssen rationalisieren und unnötige Regeln abschaffen. Die Unternehmen dürfen nicht abwandern.“