"Firmen haben keinen Biss fürs Web"
Von Simone Hoepke
Gerrit Heinemann, Leiter des deutschen eWeb-Research-Centers, spart nicht mit Kritik an klassischen Händlern. Sie seien „konservative Schlipsträger“, die „stur nach alten Mustern handeln“ und „keinen Biss haben, das Web-Geschäft zu erlernen“.
KURIER: Onlinehändler wie Zalando jubeln über Umsatzzuwächse, schreiben aber Verluste. Bei stationären Händlern ist es oft umgekehrt. Geht’s den Webhändlern wirklich so viel besser?
Gerrit Heinemann: Bei Zalando und auch bei Amazon oder ebay lautet das Motto ,klotzen‘. Einen Jumbo können Sie nicht mit 50 Liter Kerosin betanken und dann losfliegen. Das ist die Denke bei Zalando. Sie machen eine Blitzexpansion in zig Länder. Das ist ein ganz anderes Konzept als im stationären Handel, der quasi im Häuserkampf Standort für Standort erobert.
Das ändert aber nichts daran, dass beide Geld verdienen wollen, oder?
Es gelten folgende Faustregeln in der Branche: Eine Filiale muss nach zwei Jahren profitabel sein, ein Onlinegeschäft nach sieben. Zalando ist erst vier Jahre am Markt. Warten wir ab. Amazon wurde auch lange schlechtgeredet. Sie schreiben mittlerweile ein Milliarden-EBITDA und stecken weiter Geld in die Expansion. Nur deswegen steht am Jahresende eine schwarze Null und kein Riesengewinn in der Bilanz.
Was spricht dagegen, dass stationäre Händler das Internet erobern?
Die klassische Händlerkultur ist konservativ, es wird in alten Mustern gedacht. Da wird Marmor und Gold in neue Filialen gesteckt, obwohl wir laut Experten bereits einen Flächenüberhang von 40 Prozent haben. Und bevor ins Webgeschäft investiert wird, werden lieber halbkaputte Konkurrenten aufgekauft. Der Grund: Viele Firmenchefs haben keinen Biss, das Online-Geschäft zu lernen.
Was sind Ihrer Meinung nach die großen Unterschiede?
In eine Filiale investieren Sie einmal, und dann haben Sie sieben Jahre mehr oder weniger Ruhe. Online muss der Auftritt ständig angepasst werden. Das ist aufwendig und erfordert Spezialisten, die akademisch, zahlengetrieben und konzeptionsgesteuert sind. Bisher hat der Handel um Akademiker eher einen Bogen gemacht, nach dem Motto: „Die haben eh zwei linke Hände. Bei uns kann nur der was werden, der selbst die Regale eingeschlichtet hat.“
Das heißt, das ganze Berufsbild wird sich ändern?
Kunden sind immer besser informiert. Bei größeren Anschaffungen informieren sich bereits sechs von zehn Konsumenten im Internet, bevor sie ins Geschäft gehen. Damit steigen natürlich auch die Anforderungen an die Mitarbeiter. Der Handel in Österreich und Deutschland ist als schlechter Zahler bekannt und hat bisher nichts gegen sein grottenschlechtes Image getan. High Potentials wollen hierzulande gar nicht im Handel arbeiten.
In welchen Ländern hat der Handel ein gutes Image?
In den USA und Großbritannien ist die Branche als guter Arbeitgeber und Zahler bekannt. Viele High Potentials gehen in den Handel. Deswegen sind die beiden Länder in Handelsagenden auch führend.
Ist es realistisch, dass die Branche akademischer wird? Schließlich sind die Kassen nicht gerade randvoll ...
Das ist das Problem stationärer Händler am Weg ins Web. Die Einstellung von E-Commerce-Cracks würde bei vielen das Gehaltsgefüge sprengen. Und dann kommen noch die kulturellen Unterschiede dazu.
Die da wären?
Die Internetbranche ist jung, selbstbewusst und hat einen anderen Lifestyle. Die Mitarbeiter tragen keine Krawatte, dafür Gewand, das den Anzugträgern der Old Economy nicht businesslike erscheint. Und sie stehen vielleicht erst Mittags auf und arbeiten dafür in der Nacht. Das passt nicht ins Weltbild vieler alteingesessener Händler. Da prallen Welten aufeinander. Nur wenige schaffen es, die Verbindung herzustellen.
Zum Beispiel?
Erivan Haub (Eigentümer des Tengelmannkonzerns, zu dem unter anderem Obi und Kik gehören), der sich gleich zu Anfang bei Zalando beteiligt hat. Wissen Sie, was Herr Haub gleich bei der ersten Zalando-Sitzung getan hat?
Was?
Er hat die Krawatte abgenommen und gesagt: Die Zeiten der Schlipsträger sind jetzt wohl vorbei.
Wie viel Umsatz werden die Onlinehändler den stationären Geschäften bis 2020 abgraben?
Die Umsätze im stationären Handel werden bis 2020 um zwanzig Prozent in Richtung Online abschmelzen. Das wird verheerende Folgen für Kleinstädte haben, weil viele Läden im Konkurrenzkampf unter die Räder kommen werden.
Was raten Sie den Geschäftsinhabern?
Die Verknüpfung von Offline- und Online. Beim Modehändler Ernsting’s Family können Retourwaren in jeder Filiale abgegeben werden, und das ist gut fürs Geschäft. Im Schnitt verkaufen sie jedem Kunden, der etwas zurückbringt, zwei bis drei zusätzliche Teile. Das heißt, der Online-Shop treibt auch den Flächenumsatz an.
Käufe via Smartphone nehmen rasant zu. Ihre Prognose?
Ich schätze, dass bis 2020 ein Drittel des Online-Umsatzes über mobile Endgeräte abgewickelt wird – also etwa das Volumen, das der gesamte Onlinehandel heute hat. In den USA starten mittlerweile 60 Prozent der Konsumenten den Kaufprozess über mobile Endgeräte. Man informiert sich über Produkte, während man im Stau steht, auf die U-Bahn wartet ...
... oder im Geschäft steht und via Smartphone schaut, ob es den gewünschten Artikel vielleicht um die Ecke billiger gibt. Zumindest in Großbritannien werden solche Apps schon viel genutzt. Bald auch bei uns?
Bestimmt. Selbst wenn große Elektronikhandelsketten wie MediaMarkt das in Österreich und Deutschland es unterbinden wollen. Läden, in denen auf der Eingangstür ein Handy-Verbotsschild hängt, hab’ ich bisher nur in Österreich und Deutschland gesehen. Zudem bauen Händler Störsender ein, um den Internetempfang im Shop zu unterbinden. Was sie übersehen: Für viele Kunden ist es schlimmer, wenn die Onlineverbindung verloren geht, als wenn die Frau oder der Hund davonlaufen. Damit machen sie sich definitiv keine Freunde.
Professor Dr. Gerrit Heinemann leitet das eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein. Nach langjähriger Handelspraxis auch bei Douglas und Kaufhof begann er 2004 seine wissenschaftliche Laufbahn. Er ist unter anderem stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der buch.de.
Internetgeschäft2012 haben die Österreicher sechs Milliarden Euro beim Shoppen im Internet ausgegeben. Die Hälfte davon ist allerdings auf Konten ausländischer Anbieter geflossen. Handelsobfrau Bettina Lorentschitsch will den „Kaufkraftabfluss stoppen“. Per Roadshow durch die Bundesländer will sie die Branche unter dem Motto „Handels goes WWW“ wachrütteln und Internet-fit machen. Heinemann war diese Woche Redner bei der Auftaktveranstaltung in St. Pölten.