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„Ein hoher Anteil an totalitärer Ideologie“

Es war für die Nazis doch recht ärgerlich, dass ausgerechnet der für Propagandazwecke so geeignete Johann Strauß nach der abstrusen Logik der Rassenideologie ein Vierteljude gewesen wäre. Darüber schreiben durfte die Presse nicht. Nichts sollte die Ablenkung vom Kriegsalltag stören, die die Wiener Musik bot. Vor allem auch beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Denn dieses passe „perfekt in das großdeutsche Propagandabild von Wien“, heißt es in der ORF-Doku „Schatten der Vergangenheit – die Philharmoniker im Nationalsozialismus“ (zu sehen heute, Montag, um 22.50 Uhr, ORF 2). Die Doku begleitete die verstärkten Anstrengungen des Orchesters, nach wieder aufgeflammter Kritik an seinen NS-Verstrickungen die eigene Geschichte aufzuarbeiten.

Propaganda

Vertreibung und Ermordung von Orchestermitgliedern, die rasche Arrangierung der Philharmoniker mit totalitären Regimen, die Instrumentalisierung für Propagandazwecke, aber auch das Intervenieren für bedrohte Orchestermitglieder – all das thematisiert der Film von Robert Neumüller.

Kommende Woche sollen neue Forschungsergebnisse des von den Philharmonikern beauftragten Historikerteams um Oliver Rathkolb auf der Orchesterwebseite veröffentlicht werden.

Im Zuge der Aufarbeitung wurde auch ein zuvor unbekanntes Aktenkonvolut im Keller der Staatsoper gefunden. „Mich erstaunt, dass jetzt plötzlich dermaßen personalpolitisch interessantes Material auftaucht, dessen Existenz zum Zeitpunkt meiner Archivforschung überhaupt nicht bekannt war“, sagt Fritz Trümpi, einer der drei Historiker.

Die Dokumente werfen jedenfalls u.a. neues Licht auf den Trompeter Helmut Wobisch (1912–1980), und damit auf einen extremen Fall von NS-Verstrickung im Orchester. Und auch der Kontinuität, die es nach dem Kriegsende gegeben hat. Wobisch war bereits 1933 NSDAP-Mitglied, wurde 1945 gefeuert. Und avancierte nach seiner Wiedereinstellung wenig später dennoch zum Geschäftsführer des Orchesters. „Da darf man sich nicht wundern, dass das einen beträchtlichen Schaden auf das Orchester wirft“, sagt Orchestervorstand Clemens Hellsberg.

Rathkolb betont: Mehr als 50 Prozent der Musiker waren Parteimitglieder. Hellsberg dazu: „Seit 1842 hat dieses Orchester auf Basisdemokratie beruht. Wo mir das Verständnis fehlt, ist, dass in einer Institution, die lange, lange vor unserer Heimat eine demokratische Struktur gehabt hat, ein so hoher Anteil einer totalitären Ideologie erlegen ist.“

Nach dem Krieg war der Übergang fließend: Beim ersten Konzert unter sowjetischer Besatzung 29. April 1945 stand Clemens Krauss am Pult, „einer der großen Lieblingsdirigenten von Adolf Hitler“, wie Rathkolb in der Doku betont. Ab diesem Zeitpunkt sei jede Entnazifizierung vergebens.

Keiner der vertriebenen Philharmoniker ist zum Orchester zurückgekehrt.