Plädoyer für individuelle Verschreibungen
Molière drückte es sehr drastisch aus, als er sagte: „Die meisten Menschen sterben eher am Heilmittel als an der Krankheit selbst.“ Tatsächlich werden in Österreich viele Medikamente verschrieben: In einem Vergleich mit 16 anderen Ländern liegt Österreich mit 597 Euro an gesamten Arzneimittelausgaben pro Kopf weltweit an der vierten Position. Ob alle Verschreibungen nötig sind, damit beschäftigt sich der Wissenschaftstalk „Spontan gefragt“.
Immer nötig?
„Medikamente sind ein zentraler Bestandteil von Therapien“, wendet sich Moderator Markus Hengstschläger an Janina Kehr. „In deinem vom WWTF geförderten Forschungsprojekt heißt es: ,Less is more’. Wie ist das gemeint?“ Bei der Medizin mache man gerne ein bisschen mehr, antwortet die Professorin für Medizinanthropologie und Global Health an der Universität Wien. „Die Ausgangsfrage in unserem Projekt war, wie werden Medikamente verschrieben und konsumiert? Antibiotika und Benzodiazepine sind wirkungsstarke Substanzen, aber ist ihre Gabe immer nötig? Das versuchen wir in unserem interdisziplinären Forschungsprojekt zu erheben.“ Dabei befände man sich noch am Anfang, so die Wissenschafterin: „Wir gehen in Praxen und Krankenhäuser und reden mit den Ärzt*innen und Patient*innen, wie die Sachlage bei ihnen ist. Andererseits werten wir Verschreibungsdaten der Gesundheitskasse aus.“ Ob sich bisher abzeichne, dass zu schnell und zu viel verschrieben wird, will Markus Hengstschläger wissen. Bei so einem komplexen Thema wäre es schwer, das pauschal zu beantworten, entgegnet Janina Kehr. „Viele Ärzt*innen geben aber etwa vor einem Wochenende sicherheitshalber ein Antibiotikum mit“, so die Wissenschafterin. „Antibiogramme sind nicht immer durchführbar, durch die das tatsächliche Vorhandensein einer bakteriellen Entzündung bestätigt werden könnte.“
Im Anschluss will Markus Hengstschläger von Lisa Makas wissen, ob im Hochleistungssport schnell zu Medikamenten gegriffen wird. „Es kommt auf die Situation an – vor einem wichtigen Ereignis, auf das man lange hingearbeitet hat, wird auch öfter schnell etwas verabreicht“, so die Ex-Fußballerin. „Im Spitzensport geht es nun einmal um Erfolge.“ Genau das Argument höre sie oft von Patient*innen, entgegnet Janina Kehr. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, wo man performen muss. Antibiotika, Psychopharmaka oder Schmerzmittel sind oft eine Art Infrastruktur, damit unser modernes Leben funktioniert.“ Es sei auch die schnellste Lösung, könne aber letztlich auf die Kosten der Wirksamkeit gehen. Kehr: „Bei Antibiotika schwebt immer das Damoklesschwert der Resistenzen über uns – und tatsächlich gibt es etwa bei Tuberkulose, das mit einer Kombinationstherapie gut behandelbar ist, inzwischen auch ultra-resistente Formen. Bei Schmerzmitteln mit Opiaten ist es hingegen eine Frage der Abhängigkeit.“ Bei Verschreibungen gebe es keinen Weg, der für alle passt. „Verschreibungen sind ein Aushandlungsprozess zwischen Ärtz*innen und Patient*innen. Wünschenswert wäre mehr Zeit für individualisierte Betreuung.“
Eine Frage der Zeit
Genau das sei aber ein Problem, erwidert Lisa Makas. „Vor allem die Kassenärzt*innen haben keine Zeit – heute heißt es oft: ,Du hast das, also nimm das und Tschüss’“, so die Sportlerin. „Eine Privatversicherung können sich aber die wenigsten Menschen leisten, weil alles so teuer geworden ist.“ Das sei ein wichtiger Punkt, stimmt die Wissenschafterin zu. „In der Medizin ist man schnell bei einer Gerechtigkeitsfrage, selbst bei so kleinen Dingen wie Medikamenten. Aber die großen systemischen Fragen, etwa wer zu welcher Art medizinischer Versorgung Zugang hat, dürfen dabei nicht vergessen werden.“ Für Lisa Makas kommt noch etwas dazu. „Ich hatte im Lauf meiner Karriere viele gesundheitliche Probleme, habe aber wenige Medikamente genommen, selbst nach einer Knie-OP bin ich ohne Schmerzmittel ausgekommen“, erzählt sie. „Ich glaube, dass das Bewusstsein, was ein Körper vertragen kann, vielen Menschen fehlt.“
Janina Kehr kann das nur unterschreiben: „Deswegen gibt es auch nicht die eine richtige Vorgangsweise. Ein Ziel unseres Forschungsprojektes ist daher, die Stakeholder in der Gesundheitspolitik an einen Tisch zu bekommen, um eine Balance zu finden, wie man beim Verschreiben der Medikamente richtig vorgehen kann.“ Markus Hengstschläger will wissen, ob die Lage in anderen Ländern ähnlich sei. „Wir haben trotz allem ein gutes Gesundheitssystem, auf das wir stolz sein sollten“, sagt Lisa Makas. „Ich kenne Spielerinnen aus den USA, die in ihrem Leben erst einmal bei einem*r Frauenarzt*ärztin waren, um sich die Pille verschreiben zu lassen, aber noch nie Kontrolluntersuchungen gemacht haben, weil sie das Geld dafür nicht haben.“ Janina Kehr stimmt zu: „Unser Gesundheitssystem ist ein wohlfahrtsstaatliches System, das solidarisch aufgebaut ist – und es wurde hart erkämpft. Es nicht zu verlieren, ist von zentraler Bedeutung.“
Hier geht’s zur Sendung „Spontan gefragt“: