Rudolf Buchbinder: Mit Seele, Hirn und Emotionen
Kraftort Haus. Sommerterrasse, Steingrau, Grün: „Schau, da oben ein Specht!“, ein Schwimmteich, in dem Enten baden, die aus dem Türkenschanzpark zufliegen – „und alles vollscheißen“, wie Frau Agi knurrt, die gerne schon bei Sonnenaufgang frühstückt. Aus Vogelzwitschern Gelassenheit, Gleichmut, Heiterkeit gewinnt, um die Brandungen eines Pianistenlebens around the world liebend aufzufangen, Wellen ausrollen zu lassen, Wirbel zu glätten. Seit bald 47 Jahren als Beraterin, Geliebte, Mutter, Großmutter, Gastgeberin, Köchin. Die ausgebildete Pianistin, bringt Mohn- und Nussstrudel auf dem Silbertablett, gschmackig-saftig, weil selbst gemacht. „Rudi“ steht besonders auf den mohngefüllten: „Droge“, belustigt sich der Konzertreisende mit Zweitwohnsitz Flugzeug leise, „in Frankreich verboten.“ Klar, dass Agi in der Wiener Oase Mohn verzuckert. „Ihr genügt einander“, sagte Sohn Michi schon bei der Silberhochzeit. „Wir atmen im selben Rhythmus“, sagt Rudolf Buchbinder „und rufen einander oft in derselben Sekunde an“.
Das Wiener Wunderkind, Welt-Pianist, Intendant des Musikfestivals Grafenegg, mit sämtlichen österreichischen Orden geschmückt, ist treu. Seiner Kinderliebe Agi und Beethovens 32 Klaviersonaten, die er im Oktober beim Pekingfestival in sieben Konzerten in sieben Tagen für sich selbst neu erspüren wird. Glücklich, fasziniert gefesselt, diesen Klangkosmos immer wieder anders lebendig zu machen, zu bereichern, zu verwandeln.
„Je älter ich werde, desto besser wird meine Technik, desto lockerer werde ich.“ Sind ja Hirn, Seele, Emotion, die in die Finger fahren, darüber entscheiden, ob das Klavier zu singen beginnt, ob Musik entsteht. Da muss die Technik sitzen. „Am Ende meines Lebens den Höhepunkt meiner pianistischen Laufbahn zu erleben. Das strebe ich an“, sagt Buchbinder. Auch, dass er vor Konzerten viel nervöser sei als früher. Will ja zwei Erwartungshaltungen erfüllen: Die des Publikums – international alle zwei Jahre, „im Radl“ durch die großen Konzertsäle zwischen New York und Tokio. „Dort gastieren so viele gute Musiker. Dort muss das Publikum wissen, warum es Buchbinder hören will. Doch, das genügt nicht. Für mich selber muss ich die Erwartungen noch übertreffen.“
Hoher Anspruch. Apropos: Der Steinway hat gesungen, den Wiener Musikverein bis ins letzte Goldrankerl verklärt, vergangenen November bei Buchbinders tempomäßig frei gelöstem Brahms Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll. Auch eine seiner konzentriert erarbeiteten Lebenslieben. Naturtalent hin oder her, das erklärt: „Der beste Fingersatz ist der, den man beim Konzert erwischt.“
Nach allen Kompositionen, die er einstudiert hat, nennt Buchbinder die Arbeit an Haydns Klavierwerk für 18 Langspielplatten „eine große disziplinierende reinigende Erfahrung. Beethoven kommt dennoch ein besonderer Stellenwert zu. „Mit dem gesamten Zyklus seiner Klaviersonaten setzt sich der Pianist poco a poco seit der Kindheit, intensiv seit etwa 35 Jahren auseinander. Was mit Platteneinspielungen begann, kulminierte (erstmals) 1982 in Zürich mit sieben Sonntagabendkonzerten: „Exklusiv mit einer Person an meiner Seite – Ludwig van Beethoven! Er verfolgte mich 24 Stunden lang, Tag und Nacht, machte mich oft halb wahnsinnig! Ich träumte damals sogar von Beethoven“, steht in Buchbinders Lebensbuch „Da Capo“. Über dem man fast zum Musikstudenten mutiert, so viel erzählt er über Phrasen, Kadenzen, Rubati und Partituren. Dass zu wissen, was Noten bedeuten, mehr sei, als Noten lesen zu können. Über das Missverständnis mit so genannten Urtexten, in denen viele Verleger die Notenschriften der Komponisten „korrigierten“. Der Lehrer an der Musikhochschule Basel – und bitte nicht „Professor“, den bekam er drei Mal angeboten und hat ihn drei Mal abgelehnt – zeigt’s an Beispielen, wie fatal sich manche Editionsfehler über Jahrhunderte halten: „Dieses As in allen Druckausgaben von Beethovens Waldsteinsonate, das in der Originalpartitur als A notiert ist!“
Nein, mit seinen Freunden, die nur zu kleinem Teil aus Musikern bestehen, spricht er nicht über Musik. Vielleicht über schnelle Autos, über den Spaß, im atemberaubend wilden Verkehr von Marrakesch zu chauffieren, vielleicht über die Stiche des letzten Tarockspiels oder über Fußball, mit dem er als Bub seine Lehrer zur Verzweiflung brachte, weil ein guter Tormann seine Finger schwer gefährdet. So weitblickend, umfassend, und tolerant der Intendant sein Herzensfestival Grafenegg seit 2007 bestückt, „weil es dem Publikum zusteht, alle bekannten Orchester und Musiker zu erleben, selbst wenn ich sie persönlich oder künstlerisch nicht mag“; so behutsam der Verbindliche die Pointen seines Urwiener Schmähs setzt, um Verletzungen zu vermeiden – wenn es um Fingersätze geht, die Verleger eigenmächtig in Partituren eingefügt haben, wird der Sanftmütige beinahe wild: „Ob man eine Taste mit dem vierten oder fünften Finger oder mit der Nase anschlägt, ist doch völlig egal!“ Hugh.
Für den Bassenapsychologen einfach: Der Onkel! Ehemann von Mutters Schwester, männliche Bezugsfigur, da der Vater bei einem Motorradunfall verunglückt war, Amtsrevident der Polizei mit musikalischen Ambitionen auf Klavier, Gitarre und Zither. Dem Onkel, glaubt er, sei das Klavier in der winzigen Neustiftgassenwohnung zu verdanken gewesen, in der Oma, Mutter, Rudi und Bruder Klaus lebten. Der Onkel entdeckte das Talent des dreijährigen Neffen, der sämtliche Stücke, die er im Radio hörte, sofort nachklimpern konnte. Meldete den Fünfjährigen an der Musikakademie an, wo der mit den Schlagern „Waldspecht“ und „Ich möchte gern dein Herzklopfen hören“ die Aufnahmsprüfung bestand (unterschreiben konnte das Vorschulkind noch nicht, das musste die Mutter besorgen). Der polizeidisziplingeschulte Onkel überwachte auch die von Professorin Marianne Lauda verordneten Hausübungen: Und wenn der Bub beim Spielen die Hand nicht so rund hielt, dass ein Apfel druntergepasst hätte, schlug er mit einem Staberl zu. Tränen. Sechzig Jahre später überwiegt die Dankbarkeit – denn der Onkel riss sich für Rudis Karriere beide Haxen aus.
Als Zehnjähriger spielte das Wunderkind im Musikverein für Bundeskanzler Julius Raab, der sein Firmpate wurde und ihm Privatlehrer zuhaus bezahlte, damit er mehr Zeit zum Klavierspielen hätte. Auf Konzerten herumgereicht, wurde Rudi B „die erste männliche Begegnung“ für die Klosterschülerin Elfriede Jelinek im Mädchenpensionat Notre Dame de Sion. Auf der Akademie wechselte er zum genialen Klavierpädagogen Bruno Seidlhofer, der wortkarg aber eindrücklich die Individualität seiner Schüler befeuerte: So unterschiedliche Stilisten wie Friedrich Gulda, Martha Argerich, Nelson Freire oder Alexander Jenner haben bei ihm studiert. Mit Buchbinders war Seidlhofer später gut befreundet – wobei seine Frauen häufig wechselten. Während sich der zwölfjährige Rudi in Agnes Rado aus der Parallelklaviergruppe verschaute, Liebesbrieferln abschoss, mit Herz & Pfeil, so dass sie sich vor dem Briefträger genierte. Manchmal gingen die beiden im Stadtpark spazieren. „Harmlosest“, sagt SIE. Seine Gedanken wären’s nicht gewesen, erklärt ER. Die Briefe hat Agi aufgehoben, trotz fünfjähriger Beziehungspause.
Denn: Als er 13 war, begann er durch die Welt zu reisen, erschien ihr überheblich, unsympathisch fast, wenn sie einander in der Kantine trafen. Vaterlos, zogen ihn immer viel ältere Freunde an, die Klavier-Clique aus der Akademie „verzahte“ den Buben abends in Bars und Nachtlokale, wo der kleine Rudi den Bar- Pianisten ganz schnell Trink- und Rauchpausen verschaffte – weil er mit Schlagern und Evergreens glänzte. Bis: Eine widerwillige Agi 1964 von der Freundin des Geigers zu einer Kammermusikprobe mitgeschleppt wurde. Bis: Sie neben Rudi saß und ihm die Noten der Violinsonate von Richard Strauss umblätterte. „Da hab ich zugeschlagen“, triumphiert er. Sie verlobten sich im Mai und heirateten am 30. Dezember. Ohne großes Brimborium. Er war am 24. von einer viermonatigen Welttournee zurückgekommen.
Beide schnurren. „Wir hatten nichts“, sagt der heut so Gefragte und Berühmte. Lange Zeit kein Geld für einen Kühlschrank, was Biertrinkern wie Dirigent Carl Melles lauwarmes Gschlader bescherte. Buchbinder denkt, durch dieses lange Nixhaben könne er sich jetzt noch über Kleinigkeiten freuen; mit Begeisterung (aber ja, Eitelkeit) seiner Kleidung frönen, fuchsiarote Schuhe kaufen; auch schwer was wegschmeißen von den liebevoll zusammengetragenen Lebenssouvenirs. Kitsch inklusive: „Ich liebe Kitsch.“ Doch, die historische Klaviersammlung hat er wieder verkauft. Nennt den Ausflug ans Hammerklavier, neulich mit Maestro Harnoncourt „einen bezaubernden Seitensprung“. Bleibt natürlich seinem Steinway treu, kennt die Eigenheiten aller Steinways in allen Konzertsälen der Welt: „Er verzeiht dir nichts, aber keiner kann singen wie er.“ Zusatz: „Nicht auszudenken, welche Klangfülle Beethoven, der sich in ganz Europa die aktuellsten Klaviere bestellt hat, auf heutigen Instrumenten geschaffen hätte!“
Dass ihn seine Frau immer öfter auf den Reisen begleitet, seit Sohn Michael und Tochter Susi erwachsen und verheiratet sind, beglückt ihn. Denn selbst wenn er viel liest – „Albert Camus kommt mir am nächsten, vielleicht weil seine Kindheit meiner so ähnlich war“; selbst, wenn der „Genussbotschafter österreichischer Gastlichkeit“ (und passionierter Koch) gerne gut essen geht, und die Getränkefrage selbstironisch mit „WWW“ beantwortet: „Wein, Whisky, Wodka! Wasser ist nicht dabei“; selbst wenn er ab Mittag akribisch das Konzert des Abends vorbereitet: „In Hotelzimmern kann es verdammt einsam sein.“