Andreas Salcher: „Die Menschen werden klüger“
Von Axel Halbhuber
Er sei ein Widerspruchsgeist. Tatsächlich hört man Andreas Salcher oft Kritik üben. Meist am Bildungssystem, in seinen Sachbüchern setzte sich der Ex-Politiker und Berater aber auch mit der Vergeudung von Talenten in der Gesellschaft, der Verschwendung von Ressourcen und dem Umgang der Menschen mit anderen und sich auseinander. Im neuen Buch erklärt Salcher die 350 Jahre alten Ansichten des Jesuiten Baltasar Gracián. Fazit: Wer sich selbst kennt, ist erfolgreicher. Und glücklicher. Oder sogar beides.
KURIER: Herr Salcher, der Titel Ihres neuen Buches ist ein Aufruf zur Selbsterkenntnis. Reflektieren sich die Menschen Ihrer Ansicht nach zu wenig?
Andreas Salcher: Die Menschen werden insgesamt klüger. Die Welt schaut, mit allen Schwächen, besser aus als vor hundert Jahren, aber der große Kampf heißt heute Aufklärung gegen Fundamentalismus. Der aufgeklärte Mensch, der zweifelnde Mensch, entwickelt sich weiter und sorgt Stück für Stück dafür, dass die Welt besser wird.
Der ist mir viel lieber als der Fundamentalismus, der nicht nachdenkt, nicht reflektiert, nicht sucht. Wenn der Mensch sagt, ich kann mein Leben verändern, dann kann er das auch. Ich schreibe für die, die sich weiterentwickeln wollen. Die Herausforderung bei diesem Buch ist, eine sehr intellektuell anspruchsvolle Quelle so zu servieren, dass jeder sagt, da ist etwas für mich drin, vom Universitätsprofessor bis zu einem, der nur ein bis zwei Bücher im Jahr liest. Die Thesen des Baltasar Gracián kennen nur sehr wenige Österreicher. Darunter sind aber viele der ehemals und auch der jetzt Mächtigsten im Land. Gracián gilt als Geheimtipp unter den philosophischen Schriften, ist aber im Original schwierig zu lesen. Ich will seine Spielregeln zur Selbsterkenntnis und zum richtigen Umgang mit Macht allen zugänglich machen.
Sind denn alle Mächtigen selbstreflektiert?
Das würde ich nicht sagen. Schauen sie sich Herrn Stronach an. Der trägt in sich überhaupt kein Dilemma, keinen inneren Zweifel. Stronach will sich keine Fragen stellen. In der Wirtschaft ist er trotzdem erfolgreich, aber im komplexeren System Demokratie ist er deswegen gescheitert. Es gibt in der Politik schon schwere Autisten, aber Faymann, Spindelegger, Glawischnig und wer auch immer, die haben eine sehr hohe emotionale und soziale Kompetenz, sonst wären sie nicht, wo sie sind. Aber Gracián sagt: Die Person soll immer wichtiger als das Amt sein, soll das Amt übertreffen. Bei vielen unserer Politikern hat man das Gefühl, sie haben überhaupt nur einen Stellenwert, weil sie das Amt haben. Es fehlt ihnen das Anliegen. Die brennende Leidenschaft.
Passt zu einem Gracián-Zitat im Buch: „Die Welt ist eine verkehrte. Die Klugen sitzen in der Zelle, die Dummen regieren die Welt.“
Gracián Hauptthema ist der Spiegel, er nennt es „Handorakel“, der einem viel über sich selbst sagt. Die Neugier, mehr über sich zu erfahren, und wie kann ich mehr aus meinem Leben machen, interessiert Menschen sehr. Und in manchen Bereichen ist die Welt ja noch immer verkehrt. Warum bezahlen wir Kindergärtnerinnen und Pflegerinnen so schlecht? Warum haben wir das viert-teuerste Schulsystem der Welt, aber es ist nur sehr mittelmäßig?
Lernen Kinder in der Schule, sich zu reflektieren?
Überhaupt nicht. An der Sir-Karl-Popper-Schule, die ich mitgegründet habe, gibt es „Kommunikation und Soziale Kompetenz“ als Maturafach. Wie gehe ich mit Konflikten in mir selbst und in der Gruppe um, Selbstreflektion und so weiter. Warum bewerten wir mathematische Leistungen und Deutschleistungen, aber nicht auch soziale Kompetenz und Kreativität? Das findet im (normalen, Anm.) Lehrplan überhaupt nicht statt. Es ist übrigens viel leichter, die soziale Kompetenz bei Schülern weiterzuentwickeln als ihre kognitiver Intelligenz.
Es wirkt, als ob Ihr Buch auf alles eine Antwort hat. Finden Sie, es gibt schon genug Ratgeber?
Absolut. Aber das Buch ist kein Ratgeber, denn Ratgeber widersprechen sich nicht, sondern sind wie Kochrezepte. Nur der dritte Teil des Buches erklärt, wie kann ich Graciáns Wissen für mich anwenden. In den ersten beiden Teilen liefere ich dem Leser diese Thesen und Regeln des Gracián. Da sind viele Widersprüche drin. Ich halte den Leser für so intelligent, dass er das für ihn Wichtige selbst herausfinden kann. Gracián ist eine der philosophischen Quellen, von denen sich Ratgeber oft ableiten. Eine unbekannte, aber ganz wichtige Quelle.
Ein Satz von Gracián: „Die Freundschaft vermehrt das Gute und verteilt das Schlimme.“ Quasi „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Ist das nicht banal?
Auch der Buchtitel „Erkenne dich selbst“ ist scheinbar banal. Aber das beschäftigt Menschen seit 3000 Jahren. Gracián geht zum Beispiel das Thema Freundschaft sehr differenziert an. Welchen Stellenwert haben Freunde wirklich in meinem Leben? Wenn wir mit einem Freund nur Kontakt haben, wenn es uns schlecht geht, sollte man darüber nachdenken. Sogar wissenschaftliche Studien belegen: Wer die richtigen Freunde hat, lebt länger. Das ist nicht banal. Gracián hat eine klare Antwort dazu: Du sollst mit Menschen zusammen sein, zu denen du aufschaust und von denen du lernen kannst. Um dich weiterzuentwickeln. Wenn er dich eher hinunterzieht, soll man die Kraft haben, sich im Guten, das ist wichtig, von ihm zu trennen.
Verdienen Freundschaften in schlechten Zeiten nicht, um sie zu kämpfen? Stichwort Empathie.
Ich unterschiede klar: Ist jemand ein Freund. Oder bin ich von jemandem Mentor. Ich interpretiere Gracián so: Entkomme der Automatik solcher Freundschaften. Liefere dich nicht völlig dem Zufall aus. Suche die richtigen Freunde. Er sagt aber auch (sinngemäß, Anm.): Das Wirkliche im Leben ist die Tugend, die Selbstverwirklichung, wo du dich auch um andere kümmerst. Eben in der Rolle des Mentors. Aber wenn du mit oberflächlichen Menschen zusammen bist, kannst du das Potenzial zum Nobelpreisträger haben, du wirst es nicht.
Ist es erstrebenswerter, Nobelpreisträger zu werden, als lebenslange Freunde zu haben?
Das ist Abwägungssache. Karriere ist etwas Positives, wenn es deine Karriere ist, wenn du sie nach deinen Werten lebst. Wichtig ist: Man muss den Mut haben, eine Freundschaft ausklingen zu lassen. Um frei zu sein für neue Freundschaften. Da tun sich Männer leichter, Frauen haben damit ein viel größeres Problem, weil sie sich schwerer von Freundschaften trennen, die keinen Wert mehr für sie haben.
Wir müssen uns mit uns abfinden, den Charakter akzeptieren und dass bestimmte Wege verschlossen sind. Das ist die Selbsterkenntnis. Darauf aufbauend kann ich alles verändern, was mit Sozialkompetenz zusammenhängt. In meinem Persönlichkeitsmuster positive Dinge verstärken, negative beherrschen lernen. Ich bin zum Beispiel ein Widerspruchsgeist. Aber mittlerweile soweit, dass ich, bevor ich etwas sage, manchmal denke: Das bringt jetzt nichts, das schadet mir nur.
Wird man nach der Lektüre Ihres Buches glücklicher sein?
Ich denke, es ist für jeden Menschen etwas drin. Aber ich muss Sie warnen: Meine Bücher sind gefährlich. Ein Freund hat der Lektüre eines Buches geheiratet, ein anderer seinen Job gekündigt.
Zur Person.
Andreas Salcher, geboren 1960 und Doktor der Betriebswirtschaft, war 20 Jahre in der Wiener Stadtpolitik (ÖVP). Der ehemalige Bundesschulsprecher gründete 1998 mit Bernhard Görg die Sir Karl Popper Schule und führt ein Beratungsunternehmen mit den Schwerpunkten Weisheitslehren und Managementkonzepte. Er initiierte die Waldzell Meetings und das globale Bildungsprojekt „The Curriculum Project“.
Durch sein erstes Buch „Der talentierte Schüler und seine Feinde“ avancierte er zu einem Österreichs bekanntester Bildungskritiker. Seine fünf Sachbücher zu unterschiedlichen Themen verklaufen sich insgesamt 150.000 mal.
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