Betancourt: So lebt die Ex-Geisel heute
Dem renommierten österreichischen Autor & Verleger Georg Kindel gelang es, für sein Magazin OOOM (erscheint am 9. Dezember) die kolumbianische Politikerin Ingrid Betancourt in Paris zu interviewen. Die heute 54-Jährige war von 2002 bis 2008 quälende sechseinhalb Jahre lang gedemütigte Geisel der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Der KURIER bringt Auszüge.
Als Sie wieder in die Zivilisation zurückkehrten, dauerte es da lange, wieder ein halbwegs normales Leben zu leben?
Ingrid Betancourt: Ich erinnere mich immer an die Situation: Eine halbe Stunde nach meiner Befreiung stieg ich in den Jet des französischen Präsidenten um. Dort sprach ein General zu mir – ich stand noch unter Schock. Mitten im Gespräch fragte ich ihn: "General, geben Sie mir die Erlaubnis, auf die Toilette zu gehen?" Er sah mich an und hatte beinahe Tränen in den Augen: "Du bist frei, frei. Diese Frage musst du nie wieder stellen!" Jedes Mal, wenn ich aufwache und ein Dach über meinem Kopf sehe, atme ich tief durch. Jeden Tag.
Sie erhielten viele Auszeichnungen, trafen US-Präsident Obama, den Papst, König Juan Carlos. Wie sieht heute, acht Jahre danach, Ihr Alltag aus?
Ich bin sehr glücklich. Wir haben unsere Familie wieder aufgebaut und die Liebe zwischen uns ist ein Wunder. Das Trauma bleibt im Spiegel, wir weinen auch oft, aber die Sensation, dass wir nach all der Zeit der Trennung wieder eine Familie sind, dass wir einander vertrauen können – das ist mein größter Erfolg in all den Jahren. Die Welt selbst überrascht mich immer wieder mit dem Guten und ihrer Menschlichkeit.
Sie halten heute Vorträge in der ganzen Welt – auch vor Top-Managern, denen Sie vermitteln, wie man überlebt.
Mein wichtigstes Thema heißt "Survival". Führungskräfte wollen verstehen, wie man das Aussetzen, die völlige Abgeschlossenheit und die Gewalt über einen längeren Zeitraum ertragen kann, ohne verrückt zu werden oder Selbstmord zu begehen.
2008 haben Sie Natascha Kampusch (acht Jahre in der Gewalt eines Entführers) in Wien getroffen – Ihr Motiv?
Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich nach meiner Befreiung hatte, war, dass die "physische" Befreiung sofort passiert, die psychologische aber eine lange Zeit brauchen wird. Ich wusste nicht, ob ich ihr helfen könnte oder sie mir. Aber ich wusste, dass das Gespräch zwischen uns beiden in irgendeiner Form ein heilender Moment sein dürfte.