Marcel Hirscher zum dritten Mal Gesamtweltcup-Sieger
Von Stefan Sigwarth
Bruder, holländische Mama und Freundin Laura waren wegen ihres Marcels nach Lenzerheide gekommen. Letztere musste von Marcel Hirscher getröstet werden. Weil sie den Tränen nahe war wegen des um eine lächerliche Hundertstelsekunde verpassten Sieges in der Riesenslalom-Wertung.
Fräulein Laura sei gesagt: Die kleine Kristall-Kugel, die der mit Hirscher punktegleiche Ted Ligety im Foto-Finish auf Grund der höheren Anzahl an Siegen an sich riss, ist zwar schön. Und der US- Steilhang-Akrobat hat die kleine Kugel irgendwie auch verdient. Aber die Diszplinenwertung ist vergleichsweise unbedeutend, wenn der Weltcup-Gesamtsieg gefeiert werden kann. Oder wie es der geschlagene Aksel Lund Svindal ausdrückt:
"Der Weltcup-Gesamtsieg ist für mich das Allergrößte. Sportlich bedeutender als jeder WM-Titel und ein Olympiasieg."
Svindal schied schon im ersten Riesenslalom-Durchgang in Lenzerheide aus. Damit hätte Hirscher ein 13. Platz genügt, um sich die große Kristallkugel schon vor dem sonntägigen Slalom (in dem Svindal nicht antritt) zu sichern. Doch Hirscher fuhr im zweiten Lauf nicht auf Durchkommen. Er ging noch einmal aufs Ganze, weil der Unersättliche unbedingt auch noch Ligety abfangen wollte.
Verflixter Felix
Beinahe wäre dieses Risiko zwei Mal belohnt worden, wenn ... ja wenn nicht ausgerechnet Hirschers bayrischer Freund Felix Neureuther als letzter Starter noch mit einem Minimal-Vorsprung den Salzburger vom Podest gedrängt hätte. Dort standen mit Ligety, dem Franzosen Alexis Pinturault und Neureuther ausnahmslos Ausnahmekönner, die im nächsten Winter gemeinsam mit den Norweger-Trio Svindal, Jansrud, Kristoffersen und Hirscher den Weltcup zu einem Siebenkampf ausarten lassen könnten. Vorerst aber ist es angebracht, Marcel Hirschers neuerlich erfolgreiche Titelverteidigung zu würdigen.
Als erstem Österreicher überhaupt ist es dem 25-jährigen Salzburger gelungen, zum dritten Mal hintereinander die große Kristallkugel zu erobern. Und zum vierten Mal in der Weltcup-Geschichte darf darüber gejubelt werden, dass Ski-Österreich die Sieger bei Damen und Herren stellt. 1969 hieß das rot-weiß-rote Kristall-Pärchen Gertraud Gabl/Karl Schranz, im Jahr 2000 Renate Götschl/Hermann Maier und 2002 Michaela Dorfmeister/Stephan Eberharter.
Hirschers männliche Vorgänger hatten die großen Glaskugeln vornehmlich über die Speed-Bewerbe erobert. Dem 1,73 Meter kleinen Salzburger Stangenartisten gelang es mit Torläufen.
Sonntag Vormittag könnte sich Hirscher auch noch an Neureuther revanchieren und ihm die kleine Kristallkugel in der Wertung der Kurzski-Akrobaten wegnehmen. Hirscher bezweifelt stark, dass dies möglich ist. Zu sehr fühlt er sich ausgelaugt. Auch die ständige Rechnerei im Nervenkampf mit Svindal ("Da war viel Hirnschmalz gefragt") habe Substanz gekostet. Dazu kommt das Kreuz mit dem Kreuz: Ja, Hirscher weint inzwischen auch der so knapp verpassten kleinen Riesenslalom-Kugel nicht mehr nach. "In unserer Studentenbude ist für so viel Trophäen ohnehin kaum mehr Platz."
Im Augenblick des Triumphes vergaß Hirscher nicht, seinem Betreuerteam zu danken. "Denn ich war für meine Leut’ oft ein schwieriger Patient." Folgende Herren will Patient Marcel besonders gewürdigt wissen:
Die Männer dahinter
Michael Pircher, 39. Der Steirer wurde von ÖSV-Sportdirektor Hans Pum und Herren-Chefcoach Mathias Berthold als Privattrainer für Hirscher abgestellt. Pircher absolvierte das Studium der Sportwissenschaften. Im Vorjahr musste er knapp vor der WM den Unfalltod seiner Lebensgefährtin verkraften.
Edi Unterberger, 44, verbringt als Marcels Atomic-Servicemann lange Nächte im Skikeller. Der Salzburger legte schon erfolgreich bei den Rennlatten von Hermann Maier, Michael Walchhofer und Aksel Lund Svindal Hand an.
Andreas Dudek, 27, sorgt dafür, dass Hirscher nicht der Schuh drückt. Da der Weltcupsieger pro Saison bis zu 60 verschiedene Paar Skistiefel "verbraucht", ist die Anwesenheit von Dudek (der wie Hirscher die Gasteiner Hotelfachschule besucht hat) bei jedem Weltcup-Rennen unerlässlich.
Alexander Fröis, 33, ist zu verdanken, dass Hirscher trotz plötzlicher, im ersten Durchgang erlittener Rückenschmerzen, zum gestrigen zweiten Lauf noch starten konnte. Als Physiotherapeut zählt der Vorarlberger zu Hirschers Stammpersonal.
Stefan Illek, 37, sammelte schon als Pressemann im Betreuerteam von Josef Hickersberger bei der Fußball-EM 2008 PR-Erfahrung. Seit zwei Jahren versucht der ehemalige Grasski-Juniorenweltmeister zu verhindern, dass Boulevardmedien bei Hirscher das Gras wachsen hören. Der Mariazeller verfügt wie Pircher über den Ski-Trainerschein und ist gezählte 45 Mal für den ORF mit Helmkamera die Kitzbüheler Streif abgefahren.
Ferdinand Hirscher, 58. Fuhr einst gegen Hermann Maier Salzburger Landescup-Rennen. Testet selbst Marcels Ski. Der akribische Arbeiter wurde schon im Vorjahr, zumal er auch Matthias Walkner zum Motocross-Weltmeister geformt hatte, von den SN-Lesern zu Salzburgs Trainer des Jahres gewählt. Um sich ganz um seinen älteren Sohn kümmern zu können, trat er die Agenden in der Annaberger Skischule an seine Skischul-Partner ab.
Papa Hirscher wird bewusst zum Schluss genannt. So wie es der bescheidenen Art des nie ins Rampenlicht drängenden Schnauzbartträgers entspricht.
Hirscher auf Augenhöhe mit den Größten
Endstand: | |||
1. | Ted Ligety | USA | 2:15,63 |
2. | Alexis Pinturault | FRA | 2:15,66 |
3. | Felix Neureuther | GER | 2:15,89 |
4. | Marcel Hirscher | AUT | 2:15,90 |
5. | Roberto Nani | ITA | 2:16,08 |
6. | Fritz Dopfer | GER | 2:16,27 |
7. | Luca De Aliprandini | ITA | 2:16,35 |
8. | Henrik Kristoffersen | NOR | 2:16,37 |
9. | Matts Olsson | SWE | 2:16,51 |
10. | Steve Missillier | FRA | 2:16,54 |
11. | Victor Muffat Jeandet | FRA | 2:16,62 |
12. | Philipp Schörghofer | AUT | 2:16,69 |
13. | Benjamin Raich | AUT | 2:16,94 |
14. | Tim Jitloff | USA | 2:17,12 |
15. | Bode Miller | USA | 2:17,17 |
16. | Carlo Janka | SUI | 2:17,33 |
17. | Mathieu Faivre | FRA | 2:17,39 |
18. | Leif Kristian Haugen | NOR | 2:17,58 |
19. | Manfred Mölgg | ITA | 2:17,72 |
20. | Matthias Mayer | AUT | 2:18,98 |
Marcel Hirscher (AUT/Weltcup-Gesamtsieger): "Es gibt kein weinendes Auge. In unserer Studentenbude ist eh nicht so viel Platz zum Aufstellen. Ted ist der Dominator schlechthin, Hundertstel hin oder her. Die Kugel ist nicht heute verloren worden, sondern in allen Riesentorläufen bis dahin. Ich bin einfach nur froh, dass es vorbei ist und ich die Füße hinauflegen kann. Ich bin so erleichtert, es ist jeden Tag ein Drahtseilakt. Ich habe jedes Risiko in Kauf genommen, weil ich gewusst habe, dass ich heute den Sack zumachen muss. Ich glaube nicht, dass ich morgen so locker Slalom fahren kann. Mittlerweile weiß ich, was ich da erreicht habe und welchen sportlichen Wert das hat. Bei der ersten Kugel habe ich das gar nicht wirklich realisiert, das jetzt ist abartig. Danke ans ganze Team, ich bin ja nicht der leichteste und hin und wieder ein schwieriger Patient. Dass es zum dritten Mal in Folge so ausgegangen ist, ist unglaublich. Der Slalom wird ganz, ganz schwer. Bei mir fällt gerade alles von mir. Ich kenne das schon von (vom Finale 2012, Anm.) Schladming, damals bin ich auch keine Kurve mehr 'derfahren'. Aber ich gebe alles und hoffe, das Kreuz spielt mit."
Felix Neureuther (GER/Riesentorlauf-Dritter): "Ich habe nicht gewusst, wer jetzt vorne ist. Ich bin einfach mein Rennen gefahren. Dass es so ausgeht, tut mir irgendwie leid. Ich hoffe, Österreich verzeiht mir, aber ihr habt's eh die große Kugel (lacht). Eine Hundertstel ist schon brutal. Marcel hat auch oft das Hundertstelglück auf seiner Seite gehabt, das ist eben der Sport. Marcel wird vor dem Slalom am Sonntag eine ziemliche Wut im Bauch haben. Ich bin gut drauf und freu' mich."
Benjamin Raich (AUT/Riesentorlauf-13.): "Ich habe geglaubt, es ist schon entschieden, und habe dem Marcel schon gratuliert. Ich wollte im zweiten eins draufsetzen, das ist nicht gelungen. Was nächstes Jahr ist, weiß ich nicht. Es sind immer Emotionen dabei, wenn man nicht weiß, wie es weitergeht. Auch für Marlies. Auch ich werde das jetzt mal fertig fahren und keine Gedanken verschwenden, welche Dinge nachher kommen. Im Sommer werde ich in einer ruhigen Stunde die Entscheidung treffen."
Ted Ligety (USA/Riesentorlauf-Sieger und Gewinner der kleinen Kristallkugel für den Sieg in der Disziplin-Wertung): "Ich habe meine Chance gekannt und wusste, sie ist sehr klein. Dass es so eng wird und Marcel eine Hundertstel fehlt, ist verrückt. Ich wusste, ich muss wirklich gut fahren. Ich war einfach ein bisschen glücklicher. Das jetzt ist schon sehr speziell für mich. Eine tolle Belohnung für eine Saison mit Auf und Abs."
Mathias Berthold (ÖSV-Herrenchef): "Es war für Marcel eine brutal schwierige Situation. Dass sich die kleine Kugel nicht ausging, ist natürlich schade. Aber Ted ist der Top-Mann im Riesentorlauf. Er konnte aber auch auf Teufel komm raus fahren, und Marcel hatte die große Kugel im Hinterkopf. Marcel geht mit Druck sehr gut um und löst das bravourös."
Hans Pum (ÖSV-Sportdirektor): "Das war so spannend, da hat man Herzklopfen und im Magen spürt man es auch. Ted Ligety hat verdient gewonnen, auch wenn am Ende nur wenige Hundertstel entschieden haben. Ich bin erleichtert, dass der Gesamt-Weltcup zugunsten von Marcel entschieden ist, denn was man hat, das hat man. Man hat nicht erwarten können, dass wir bei Damen und Herren die große Kugel holen."
Geboren: 2. März 1989 in Hallein/SalzburgWohnort: Annaberg/SalzburgGröße/Gewicht: 1,73 m/75 kgFamilienstand: ledig, Lebensgefährtin Laura MoislVerein: SC AnnabergHobbys: Moto Cross, Kajak, KletternHomepage: www.marcelhirscher.at
Größte Erfolge
Olympia: Silber Slalom 2014 Sotschi 4. RTL 2014 Sotschi und 2010 Vancouver 5. Slalom 2010 VancouverWM (2 Gold/1 Silber): Gold Slalom und Mannschaft 2013 Schladming Silber RTL 2013 SchladmingWeltcup: Gesamtsieger 2011/12, 2012/13 und 2013/2014 RTL-Gesamtsieger 2011/12 Slalom-Gesamtsieger 2012/13 22 Siege (12 Slalom, 9 RTL, 1 Parallelrennen)Junioren-WM (3 Gold/2 Silber/1 Bronze): Gold RTL 2007 Flachau und 2008 Formigal sowie Slalom 2008 Formigal Silber Slalom 2007 Flachau und Super-G 2009 Garmisch Bronze RTL 2009 GarmischEuropacup: Gesamt- und Slalom-Sieger 2007/08Auszeichnungen: Österreichs Sportler des Jahres 2012
Gesamtweltcup-Sieger | |
1967 | Jean-Claude Killy (FRA) |
1968 | Jean-Claude Killy (FRA) |
1969 | KARL SCHRANZ (AUT) |
1970 | KARL SCHRANZ (AUT) |
1971 | Gustav Thöni (ITA) |
1972 | Gustav Thöni (ITA) |
1973 | Gustav Thöni (ITA) |
1974 | Piero Gros (ITA) |
1975 | Gustav Thöni (ITA) |
1976 | Ingemar Stenmark (SWE) |
1977 | Ingemar Stenmark (SWE) |
1978 | Ingemar Stenmark (SWE) |
1979 | Peter Lüscher (SUI) |
1980 | Andreas Wenzel (LIE) |
1981 | Phil Mahre (USA) |
1982 | Phil Mahre (USA) |
1983 | Phil Mahre (USA) |
1984 | Pirmin Zurbriggen (SUI) |
1985 | Marc Girardelli (LUX) |
1986 | Marc Girardelli (LUX) |
1987 | Pirmin Zurbriggen (SUI) |
1988 | Pirmin Zubriggen (SUI) |
1989 | Marc Girardelli (LUX) |
1990 | Pirmin Zurbriggen (SUI) |
1991 | Marc Girardelli (LUX) |
1992 | Paul Accola (SUI) |
1993 | Marc Girardelli (LUX) |
1994 | Kjetil Andre Aamodt (NOR) |
1995 | Alberto Tomba (ITA) |
1996 | Lasse Kjus (NOR) |
1997 | Luc Alphand (FRA) |
1998 | HERMANN MAIER (AUT) |
1999 | Lasse Kjus (NOR) |
2000 | HERMANN MAIER (AUT) |
2001 | HERMANN MAIER (AUT) |
2002 | STEPHAN EBERHARTER (AUT) |
2003 | STEPHAN EBERHARTER (AUT) |
2004 | HERMANN MAIER (AUT) |
2005 | Bode Miller (USA) |
2006 | BENJAMIN RAICH (AUT) |
2007 | Aksel Lund Svindal (NOR) |
2008 | Bode Miller (USA) |
2009 | Aksel Lund Svindal (NOR) |
2010 | Carlo Janka (SUI) |
2011 | Ivica Kostelic (CRO) |
2012 | Marcel HIRSCHER (AUT) |
2013 | Marcel HIRSCHER (AUT) |
2014 | Marcel HIRSCHER (AUT) |
Frage: Herzlichen Glückwunsch. Wie schwierig war das heute für Sie?
Hirscher: "Abartig schwierig. Am Start zu stehen und zu wissen, es ist notwendig, eine Sensationsfahrt auf diesen Bedingungen zu haben. Das nächste ist dann, zu wissen, wenn ich das jetzt verkacke, ist alles vorbei. Alles. Weil im Slalom zu wissen, ich muss heute zwanzig Punkte holen, das funktioniert nicht. Da überschlägt es mich beim dritten Tor vor lauter Nervösität. Weil ich weiß, wie risikoreich der Slalom ist. Ich wusste, ich muss heute, wenn es irgendwie geht, den Sack zumachen. Und das ist mir geglückt. Und es ist abartig. Der Rucksack, der gefühlte 5.000 Kilo schwer war, der ist jetzt weg. Und meine Energie auch."
Wie groß war Emotionen-Wirrwarr im Zielraum, weil das große Kristall in Ihren Händen war, aber die Riesentorlauf-Kugel so knapp verloren ging?
"Das war mir dann wurscht. Es ist natürlich krass, dass ein Hundertstel entschieden hat, aber auf der anderen Seite, wenn man das gewichtet, große und kleine Kugel, dann bin ich froh, dass es so ausgegangen ist."
Sie haben als erst vierter Rennläufer zum dritten Mal in Serie die große Kugel gewonnen. Können Sie den Erfolg schon ein bisschen einordnen?
"Man kann drüber reden, aber ich kann es nicht einordnen. Ich habe damals ungefähr eineinhalb, zwei Jahre gebraucht, bis ich meinen ersten Gesamtweltcupsieg realisieren konnte. Nicht einordnen, sondern nur realisieren. Also ich brauche ein bisschen mehr Zeit als nur eine Stunde." (lacht)
Sie mussten sich behandeln lassen. Wie geht es Ihrem Rücken?
"Nicht gut. Ich habe mir im ersten Durchgang eine Zerrung zugezogen. Ich habe eine Behandlung bekommen, sonst hätte ich keine Kurve mehr fahren können."
Was bedeutet das für den Slalom?
"Kann sein, dass ich komme, kann sein, dass ich nicht komme. Es ist alles möglich. Aber es ist auf jeden Fall ganz schwer, da morgen noch einmal die Spannung und den Fokus zu richten, weil wie man sieht, huch (schnauft durch/lacht) es ist einfach abartig geil, dass ich das Hauptziel realisieren habe können. Es war ein irrsinniger Fight mit dem Aksel (Svindal/Anm.). Wir haben beide Nerven gezeigt. Ich habe das glücklichere Ende heute für mich gehabt. Das war halt einfach auch sehr viel Risiko in einen Riesentorlauf hineingelegt. Ich bin richtig müde gerade. Logisch sind wir müde. Sehr viel Hirnschmalz ist da gefragt. Im Kopfrechnen bin ich momentan eine Wucht. Das habe ich sehr viel gemacht in letzter Zeit."