Sport

Reporterlegende Sigi Bergmann im Interview

Herr Bergmann, viele Medien wollen mit Ihnen über Ihren neuerlichen Einsatz als ORF-Boxexperte bei Olympia sprechen. Schmeichelt das Interesse?

Schon, aber das ist sicher das letzte Mal. Das hab’ ich 2012 zwar auch gesagt, aber ein Reporter mit 78 Jahren ist schon sehr alt. Geschweige denn mit ... da muss ich nachrechnen ..., in vier Jahren bin ich 82.

Es sind Ihre 20. Olympischen Spiele. Überwiegt da Routine oder Lampenfieber?

Das Alter nimmt einem viel Lockerheit. Ich musste mich auf 500 Boxer vorbereiten und war bis knapp vor den Spielen bei 400. Was fehlt, mache ich später mit Routine. Es ist ja auch so, dass sich viele Zuschauer beim Boxen nicht so gut auskennen. Das darf man nicht vergessen.

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Apropos vergessen: Wenn es um das Datum eines längt vergangenen Sportereignisses geht, vergessen Sie nie, oder?

Naja, ich bin Historiker und habe mein Doktorat in Geschichte gemacht. Da musste ich sehr viel in Jahreszahlen einordnen. Und mit Zahlen kann man auch vergleichen – was im Sport sehr wichtig ist. Irgendwann wird das zum Beruf. Da arbeitet man faktisch mit den Zahlen zusammen.

Sie haben selbst einmal geboxt ...

... und ich hab’s gerne gemacht. Aber an der Uni zu boxen, hat mit Boxsport wenig zu tun. Eigentlich hat man nur Boxhandschuhe an, hüpft herum und schlägt den anderen. Obwohl man sich mit einem guten Trainer schon verbessern kann.

Wie ist es bei uns um die Profis bestellt?

Wir haben zwar einige Talente, aber im Moment niemanden an der Weltspitze. Wenn du als junger Boxer in Österreich ein bissl Karriere machen willst, musst du täglich fünf, sechs Stunden trainieren. Man muss beinhart sein, sowohl, was das Nehmen von Treffern angeht, als auch von der Härte zu sich selbst her. Denken Sie, wie viele Todtraurige es gibt, die nur ein paar Punkte oder Hundertstel hinten sind. In der harten Welt des Sports, ist ja auch der Silbermedaillen-Gewinner der Verlierer. An ihn erinnert sich keiner mehr.

Und das obwohl oft nicht mal „der Wimpernschlag einer Libelle“ dazwischenliegt. (Anm.: ein berühmtes Bergmann-Zitat)

Das hab’ ich gesagt, als der Rodler Markus Prock um lächerliche 13 Tausendstel die Goldmedaille verpasst hat ... Früher war das anders. Der Toni Sailer, den ich sehr gut gekannt habe, war Österreichs Jahrhundert-Sportler. Er hat mit 20 aufgehört zu fahren und war damals dreifacher Olympiasieger und siebenfacher Weltmeister. Jetzt stell dir bitte vor, der hat seine erste olympische Goldmedaille im Riesentorlauf von Cortina D’Ampezzo 1956, mit 6,2 Sekunden Vorsprung gewonnen. Zum ersten Mal elektronisch gestoppt, bitte! Und der Zweite, der Anderl Molterer, war auch keiner, der auf der Nudelsuppe dahergeschwommen ist.

Offenbar war Sailer ein Ausnahmetalent.

Sicher sogar. Er hatte auch beim Slalom fünf Sekunden Vorsprung. Der Slalom ist das, wo es zwei Durchgänge gibt.

Sagen Sie das, damit ich mich auskenne?

Ja, genau.

Lieb von Ihnen. Aber ich war zehn Jahre mit einem Sportmoderator liiert. Ist Ihre Frau, mit der Sie seit mehr als 35 Jahren verheiratet sind, sportinteressiert?

Ja, schon alleine durch unsere Tochter. Das war eigentlich der Höhepunkt meiner olympischen Auftritte. Sie war siebenfache Staatsmeisterin in der rhythmischen Sportgymnastik und die erste Österreicherin, die sich für Olympia qualifiziert hat. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind Vater und die Tochter ist bei Olympia.

Hmm, schwierig mich in die Rolle des Vaters zu denken. Aber ich weiß, was Sie meinen. Und Ihre Frau?

Dass meine Ehe noch Bestand hat, ist nur wenig mein Verdienst. Sie müssen denken, wie viel man als Sportreporter unterwegs ist. Als meine erste Tochter, Elisabeth die gute Turnerin, zur Welt gekommen ist, habe ich einen Orsolics-Kampf übertragen. Bei der Geburt von der Evi, der zweiten Tochter, war ich in Izmir, wo wir uns für die WM in Argentinien qualifiziert haben. Als meine Schwiegervater starb, war ich in Argentinien bei der Fußball-WM. Und beim Tod meiner Schwiegermutter vier Jahre später bei der Fußball-WM in Spanien. Wann immer ich immanent gebraucht worden wäre, war ich eigentlich nie da. Das ist für eine Familie schon eine Belastung.

Trotzdem ist Ihre Frau geblieben.

Notabene, wie sehr sie mir mit meiner Diabetes geholfen hat. Sonst wäre das schiefgegangen.

Man hat das Gefühl, dass Diabetes heutzutage einfacher zu behandeln ist. Stimmt der Eindruck?

Die meisten verstehen das gar nicht. Ich habe Diabetes mit circa 30 gekriegt. Da ich ein technisch Grenzdebiler bin, spritze ich. Man muss gut eingestellt sein, denn wenn du einen Umfaller hast, brauchst du fast eine Woche, bis sich die Körperstabilität wieder eingependelt hat. Und man muss sein Leben halt kontrollieren.

Sie haben sich selbst sehr lange um den Boxer Hansi Orsolics gekümmert. Wie geht es ihm heute?

Nicht so gut, weil er ja einmal Lungenkrebs hatte. Aber ich würde sagen, es geht ihm, wenn man bedenkt, wie er gelebt hat, den Umständen entsprechend gut.

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Warum war es Ihnen wichtig, ihn vor dem Absturz zu bewahren?

Weil sich nach dem Karriere-Ende jeder von ihm abgewendet hat. Das hat der Hans nicht verstanden. Plötzlich waren die ganzen Schulterklopfer weg. Der Hans hat ein Jahrzehnt sicher nie weniger als vier Liter Wein pro Tag getrunken. Stellen Sie sich vor, das waren zwei Doppler.

Das kann ich mir nicht vorstellen.

Sie wären nach einem Tag tot, oder nach einer Woche.

Sie haben ihm auch einen Job in der Druckerei des ORF vermittelt.

Mit Hilfe von Podgorski und Bacher. Der Hans war ein Mann, der alles für seinen Sport getan hat. Er hat nur nicht verstanden, dass das, was er im Ring macht, 20 Zentimeter außerhalb ein schweres Verbrechen ist.

Sie meinen zuzuschlagen?

Er war später Gastwirt und einige Male im Gefängnis, obwohl er eigentlich nie kriminell war. Es sind Leute in sein Gasthaus gekommen und haben ihn provoziert. „Du Blader, du.“ Er war ja sehr klein, 1,64 m, und später ein Muskelpaket. Zuerst hat er noch gesagt: „Oida, lass mich in Frieden.“ Aber dann haben sie ihm ein Glas auf den Boden geschmissen und ihn zum Aufheben genötigt. Der Pavarotti hätte mit einem hohen C geantwortet, der Hans hat den linken Haken ausgepackt.

Hat er Ihnen vom Gefängnis erzählt?

Es gab bewegende Geschichten. Einmal hatte er einen Stockchef, der ihn nicht mochte. Eines Tages geht die Zellentür auf und der Stockchef reicht ihm einen Strick herein und sagt: „Häng di auf, depperter Boxer.“ Das ist auch eine Hauptszene im Stück vom Franzobel über den Orsolics. Und dann sagt der Hansi in einem TV-Interview zu mir: „Waßt, i bin a Sportler. I kann mi do ned aufhängen“. Dann hat er den Strick aufgeknüpft und begonnen, Seil zu springen. So hat er aus einem Mord- ein Sportgerät gemacht.

Das muss einem erst einmal einfallen.

Nachgedacht hat der Hansi nie. Aber es kam von irgendwoher.

Haben Sie das Helfersyndrom?

Zum Hansi hatte ich viel Bezug. Ich habe seine ganzen Kämpfe übertragen und gesehen, wie er plötzlich allein gelassen wurde. Es gibt keinen Parallelfall in dieser Richtung. Wenn ich helfen kann, helfe ich. Aber ich stell mich nicht auf den Stephansplatz und schreie: „Wer braucht meine Hilfe?“ Es muss sich ergeben.

Sie haben über Orsolics ein Buch geschrieben – und über Muhammad Ali. War er für Sie der größte aller Boxer?

Ja, sicher. Ich habe immer überlegt, was ihn so populär macht. Es hat Boxer gegeben, die härter geschlagen haben als er, manche waren öfter bei Weltmeisterschaften oder blieben ungeschlagen, während er fünf Niederlagen einstecken musste. Bei ihm war’s das Gesamtpaket. Er war intelligent, hatte Reflexe. Wenn ich den Namen Ali gehört habe, habe ich immer an Nurejew gedacht. Er war wie ein Tänzer, der 100 Kilo locker durch den Ring bewegt hat.

Boxen ist brutal. Gab es nie den Moment, wo Sie nicht hinsehen konnten?

Stell dir vor, das mach’ ich als Kommentator. „Entschuldigen Sie, ich habe gerade die Augen zugemacht, weil es so furchtbar ist.“ Besonders brutal wird es ja erst, wenn alles in Zeitlupe wiederholt wird.

Wir haben jetzt viel über alte Zeiten gesprochen. Schauen Sie gern zurück?

Schon. Ich habe das auch in meinem letzten Buch geschrieben. Meine Kindheit in Vorau war sehr blutig. Meine Mutter wurde im Krieg erschossen. Ich war sieben und bin in ihren Armen gelegen. Aber sie hat mir sicher viel geholfen, von oben. Welcher Volksschüler kann schon sagen, er ist auf einer Leiche gelegen? Das prägt.

Sie sind dann zum Bruder der Mutter, der Geistlicher war, nach Wien gekommen.

Damals war er Kaplan in Bruck an der Leitha, aber er ist später Bischof geworden. Ich bin im erzbischöflichen Palais aufgewachsen und habe zu den Kardinälen König und Innitzer Onkel gesagt.

War das eine gute Zeit damals?

Die Jugend war dann wieder einigermaßen. Mein bester Freund war der Sohn vom Mesner. Mit dem bin ich mit dem Radl durch den Stephansdom gefahren, weil wir den Schlüssel hatten.

Sind Sie ein gläubiger Mensch?

Ich war immer religiös, damals noch mehr als heute. Ich sage, ich bin Katholik mit allen Pros und Kontras – und es gibt viele Kontras. Für mich ist der jetzige Papst eine Lichtfigur. Nur habe ich nicht geglaubt, dass er so lange überlebt.

Was wünschen Sie sich noch vom Leben?

Das es mir nie schlechter geht. Es geht mit meiner Krankheit halbwegs und meine Familie passt auf mich auf. Es war halt dieses unregelmäßige Leben. Ich war an die 30-mal in Las Vegas. Aber nicht, weil ich ein Gambler war, sondern weil dort alle großen Boxkämpfe waren.

Würden Sie wieder Sportreporter werden?

Nein, ich will Opernsänger werden.

Sie haben ein Gesangsstudium abgeschlossen. Singen Sie irgendwo?

Bei Begräbnissen. Ich habe alle meine Kollegen ins Jenseits begleitet, vom alten Edi Finger bis Gerhard Zimmer (Anm.: Ex-ORF-Sportreporter). Die Musik ist sehr wichtig für mich. Wenn ich eine Woche nicht in die Oper gehe, werde ich mieselsüchtig.

Wollen sie noch etwas loswerden?

Wir haben ja so viel geredet. Da bringen Sie nicht mal die Hälfte unter. Aber das macht ja nix.

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Sigi Bergmann, 78, wurde 1938 im steirischen Vorau geboren. Sein Vater hatte drei Söhne mit drei Frauen. Seine Mutter wurde im letzten Kriegsjahr vor den Augen des damals Siebenjährigen erschossen. So kam er zum Bruder der Mutter, einem Bischof, nach Wien. Nach der Matura wurde Bergmann Volksschullehrer und startete ein Geschichtsstudium. Er promovierte 1964 und heuerte 1968 beim ORF an, wo er 17 Jahre die Sendung „Sport am Montag“ moderierte. Aufgrund seines Kultur-Interesses waren Künstler von Carreras bis Domingo seine Studiogäste. Bergmann studierte ebenfalls Gesang und ist großer Opern-Fan. Der Vater von zwei Töchtern ist seit mehr als 40 Jahren verheiratet und derzeit bei Olympia in Rio als Box-Kommentator im Einsatz – zum 20. Mal.

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