Das Schach-Wunderkind wird erwachsen
Von Florian Plavec
Magnus Carlsen, 22 Jahre alt, Norweger, nachdenklich, schüchtern. Er spricht selten – und wenn, dann wenig und leise. Seine Freunde studieren, er sitzt jeden Tag stundenlang vor dem Computer und lebt noch bei den Eltern.
Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite ist Magnus Carlsen ein gnadenloser Kämpfer, motiviert bis unter die Haarwurzeln. Er ist unberechenbar, offensiv, ehrgeizig – der beste Schachspieler der Welt und mittlerweile Millionär.
Ab 6. November kämpft Carlsen gegen Viswanathan Anand um den WM-Titel. Im indischen Chennai (Madras), wo Anand vor 43 Jahren geboren wurde. Der Heimvorteil und die Erfahrung sprechen für den Titelverteidiger, das Selbstvertrauen und der unbedingte Siegeswille für Herausforderer Carlsen.
Seit seinem achten Lebensjahr beschäftigt sich Carlsen intensiv mit Schach, mit 13 war er Großmeister, mit 19 die jüngste Nummer 1 der Welt. Im Februar dieses Jahres erreichte er eine ELO-Zahl (gibt die Spielstärke an) von 2872 Punkten – das ist der höchste Wert, den je ein Spieler erreichte. Im April gewann er das Kandidaten-Turnier für die WM.
Erinnerungen
Auch ein Österreicher hatte bereits das Vergnügen, gegen Carlsen zu verlieren. Österreichs bester Schachprofi Markus Ragger unterlag dem Norweger bei der Schacholympiade in Dresden 2008 knapp. „Obwohl Carlsen damals erst 17 war, war es etwas ganz Besonderes, gegen ihn zu spielen“, erinnert sich der heute 25-jährige Kärntner. „Die Partie wurde vom ZDF mitgefilmt, danach habe auch ich Autogramme geben müssen.“ Carlsens Spiel sei extrem schwer auszurechnen. „Er hat eine ganz eigene Herangehensweise und kann sich auf seinen Gegner sehr gut einstellen.“
Für Carlsen zählt nur der Sieg, ein Remis akzeptiert er nur höchst ungern. Doch sich selbst hält er keinesfalls für genial. In akzentfreiem Englisch sagt er: „Mein Vater ist sicher intelligenter als ich.“
KURIER: Herr Carlsen, erinnern Sie sich an ein Spiel gegen einen Österreicher?
Magnus Carlsen: Natürlich. Ich habe 2008 in der ersten Runde gegen Markus gespielt. Er hat toll gekämpft, leider für ihn hat er dann den einzigen Weg gefunden, nicht das Unentschieden zu erreichen. Ich war in diesem Duell der Glücklichere.
Sie waren zur WM-Vorbereitung zwei Mal zwei Wochen auf Trainingslager. Wie sieht da ein Tagesablauf aus?
Frühstück, dann ein paar Stunden Schach mit meinen vier Adjutanten, unterstützt von vier Computern. Es folgt Sport, dann Schach, dann Abendessen und dann wieder Schach.
Sie unterscheiden zwischen Sport und Schach? Schach ist doch Sport. Zumindest offiziell.
Die ewige Diskussion, ob Schach ein Sport ist, interessiert mich nicht. Ich weiß aber, dass ich im Trainingslager viel Schach spiele, aber auch
Tennis, Volleyball und Fußball. Außerdem war ich im offenen Meer schwimmen und habe ein paar Gewichte gehoben.
Sie wirken beim Spiel sehr cool. Hilft Ihnen dabei die norwegische Mentalität?
Ich habe eine Eigenschaft, die ich mit vielen Nordländern teile: Ich versuche, immer kühlen Kopf zu bewahren. Ich möchte und muss auch in sehr intensiven Situationen objektiv bleiben. Außerdem ist mir wichtig, immer wieder den Kopf freizubekommen. Würde ich mich nur auf die WM fokussieren, würde ich den Druck zu stark spüren.
Es heißt, Sie haben seit Ihrem achten Lebensjahr keinen Tag ohne Schach verbracht. Stimmt das?
Nein. Vor ein paar Wochen bin ich von den USA zurück nach Europa geflogen. An diesem Tag habe ich mich nicht mit Schach beschäftigt. Oder zumindest kaum.
Was macht für Sie die Faszination des Schachspiels aus?
Ich habe schon sehr früh damit begonnen, Schach zu spielen und es hat mir von Anfang an gefallen. Aber was die Faszination ausmacht, kann ich nicht sagen. Vielleicht bin ich in einigen Jahren so weit, dass ich eine intelligentere Antwort geben kann.
Macht Ihnen das Spielen oder das Siegen mehr Spaß?
Spielen ist schön. Besonders, wenn mir Überraschendes gelingt. Aber Gewinnen ist noch schöner.