Gesichts-Studien
Ich versuche es, aber ich kann (noch?) nicht fachmännisch beurteilen, ob eine Viererkette gut nachrückt, ob die zwei Sechser gut harmonieren oder ob die Außenverteidiger wichtige Offensiv-Impulse setzen. Deshalb muss ich mich bei meinen Wohnzimmer-Analysen von Fußballspielen auf etwas anderes konzentrieren: Ich versuche, die Gesichter der Spieler zu lesen. Mein vorläufiger Lieblings-Gesichtsausdruck-Moment der Euro 2012: Lars Bender bei und nach seinem Tor gegen Dänemark.
Ich weiß nicht, ob Sie’s gesehen haben, aber als im Fünfmeterraum der Ball an Gomez vorbeirollte, da hat man in den Augen des 23-jährigen Bender, der rechts von seinem Stürmerstar nach vorne lief, ein Funkeln erkennen können. Man sah: Der Aushilfsverteidiger, der zum ersten Mal von Anfang an in der DFB-Elf stehen durfte, spürte, das ist sein Moment. Er fackelte nicht lange, haute drauf – und traf!
Ein Blick in sein Gesicht sagte alles. Ich kann zwar nur mutmaßen, aber vielleicht dachte er an seinen Zwillingsbruder Sven, ebenfalls Profifußballer, an seine Eltern und deren Stolz, vielleicht an seine besten Freunde, mit denen er noch vor der EM gescherzt hatte, er mache ein wichtiges Tor.
Rührend! Vielleicht halten Sie mich für verrückt, aber mir kommen tatsächlich manchmal bei Fußballspielen die Tränen.
Ein anderer, der mich zur Rührung brachte, war Andrej Schewtschenko, der ukrainische Superstar, der seine Karriere extra für die Heim-EM noch um ein Jahr verlängert hat. Und dann schießt der 35-Jährige die Ukraine mit einem Doppelpack im ersten Spiel zum Sieg gegen Schweden. Nach dem Spiel feierte er, als wäre er ins Finale eingezogen. Seine Freude war mitreißend. Und bei mir – wieder Tränen!
Und selbst Cristiano Ronaldo erweckte mein Mitgefühl, als er im dritten Spiel endlich traf und sein Team ins Viertelfinale schoss. Der Stein, der ihm da vom Herzen gefallen ist, liegt wohl immer noch irgendwo im Stadion von Charkiw.
Karoline Krause ist Redakteurin in der KURIER-Außenpolitik.