Politik

Wilheminenberg: "Warum hat man nur gemunkelt?"

Die langjährige Präsidentin der Richtervereinigung, Barbara Helige, will als Kommissionsvorsitzende die Verantwortlichen für den mutmaßlichen Missbrauch im Kinderheim Schloss Wilhelminenberg finden.

KURIER: Und was soll mit denen dann passieren?
Barbara Helige: Es ist wahrscheinlich, dass Vorkommnisse verjährt sind. Es gibt aber auch Verantwortung, die nicht straf- und zivilrechtlich festgemacht werden kann, sondern die sich in schlechten Strukturen und unzureichender Kontrolle widerspiegeln kann. Ausgehend von Geschichten einzelner Menschen kann man die Frage bearbeiten: Hat man verantwortlich und politisch vorausschauend zum Wohl des Kindes agiert.

Soll man die Verjährungsfristen ändern?
Die Sicherheit eines allfälligen Täters und die Gewissheit für das Opfer, dass es keine Genugtuung mehr geben wird, ist unerwünscht. Dieses nichts mehr tun können. Dem steht aber die erhebliche Belastung eines Opfers in einem Prozess mit unsicherem Ausgang gegenüber. Nach so langer Zeit drohen Enttäuschungen. Daher ist das die Form, die ich mir für unsere Kommission vorstelle: Verantwortung festzumachen und damit eine gewisse Entlastung für die Opfer zu schaffen, ohne dass es des Mittels des Strafrechts bedarf.

Untersuchen Sie auch den mutmaßlichen Tötungsfall?
Ja. Es ist nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft, Verdachtsmomente zu suchen. Aber ich sehe das als unsere Aufgabe an, eine bessere Basis für eine Beurteilung zu schaffen. Mit allen möglichen Erkenntnisquellen.

Auch mit Vernehmungen von Verdächtigen?
Bei politischen Untersuchungsausschüssen und Gerichtsverfahren sind Bürger verpflichtet, mitzuwirken. Bei uns nicht. Ich gehe aber davon aus, dass viele Leute mithelfen wollen, zu erfahren, was war. Dass die Menschen, die uns etwas sagen können, das auch tun. Ich ersuche auch Sie und Ihre Kollegen, die Opfer, die sich bei Ihnen melden, zu fragen, ob sie mit uns sprechen wollen.

Sind Entschädigungen ein Thema?
Die persönliche "Wiedergutmachung", so fern das möglich ist, ist Aufgabe der Opferorganisationen. Ich sehe unsere Aufgabe darin, was einige Opfer gesagt haben, nämlich: Ich will aufdecken, was damals passiert ist. Ich will, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Das kann unsere Organisation allen Beteiligten bieten. Denn es darf keine Pauschalverurteilungen geben. Man muss alle zu Wort kommen lassen. Auch Erzieher, die dort gearbeitet haben. Und Zöglinge, ich bringe das Wort kaum über die Lippen, die nicht Opfer waren oder sich nicht als Opfer gesehen haben, auch die sind wichtige Zeitzeugen für uns.

Wie können Sie Ihre Erfahrungen als Richterin einsetzen?
Durch den Wunsch der Richterin, zu wissen, wie es war. Das ist für uns Richter zentral, objektiv zu ermitteln. Aber ich lege Wert darauf: Das ist kein Gerichtsverfahren.

Wie und wo ist Ihnen als Familienrichterin der Missbrauch begegnet?
In der Dimension ist mir das noch nicht untergekommen. Aber Aufgabe der Kommission wird nicht nur sein, den ganz schrecklichen Verdächtigungen nachzugehen, sondern auch den unter Anführungszeichen "ganz normalen" Übergriffen. Als ich als Richterin angefangen habe, hat Prof. Czermak seinen Kampf gegen die vermeintlich "g'sunde Watschen" gefochten. Das Züchtigungsverbot kam erst 1989 ins Gesetz, eine junge Entwicklung. Damals anerkannte rigidere Erziehungsmethoden waren nicht gleichbedeutend mit Übergriffen. Es ist für die Gesellschaft ein wesentliches Thema, welche Position die Kinder in unserer Welt, nicht nur am Wilhelminenberg, in den 50er- bis 70er-Jahren hatten.

Es wird oft weggeschaut. Braucht es mehr Zivilcourage?
Angeblich hat man über vieles gemunkelt. Wenn das so war, wollen wir herausarbeiten, warum man nur gemunkelt hat. Da spielt die Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Wie reagiert jemand darauf, wenn ich das auf den Tisch lege?

Was macht Ihnen Angst?
Selbstverständliche Verstöße gegen die Menschenrechte, bei denen niemand reagiert. Das Verbrechen ist schlimm genug, aber wenn die Gesellschaft nicht darauf reagiert, verschlimmert das die Situation. Wenn ein Opfer niemanden mehr hat, wo es hingehen kann.