Politik

Philosoph Burger: "Die Moral hat sich nicht verändert"

Frühere politische Skandale hatten doch "eine ganz andere Dimension, als wenn heute jemand auf die Jagd geht und ein Murmeltier erschießt", sagt der Doyen der Philosophie in Österreich, Rudolf Burger. Aber die Empfindsamkeit der Öffentlichkeit gegenüber politischem Sumpf ist eben gewachsen: Umfragen wollen wissen, dass gut 20 Prozent der Wähler für neue Parteien wie etwa die "Piraten" zu haben wären. Vier Fünftel wünschen sich eine "neue Moral" in der Politik. Soziale Netzwerke boomen auch als Foren der Unzufriedenheit. "Saturiertes Unbehagen", nennt Burger das, und mit dem könne Politik nicht umgehen.

KURIER: Die gegenwärtige Stimmung lautet: Alle Politiker sind G’fraster, und wir brauchen neue Parteien – ist das herbeigeschrieben, oder erleben wir tatsächlich eine politische Zeitenwende?

Rudolf Burger: Ich denke, dass die Erosion der traditionellen Großparteien, also SPÖ und ÖVP, tatsächlich mehr ist als nur eine konjunkturelle Krisenerscheinung.

Aus welchem Grund?

Der eine Grund ist: Die Parteien waren in der Nachkriegszeit nur in ihrer ideologischen Selbstdarstellung wirklich so etwas wie Gesinnungsgemeinschaften. In erheblichem Ausmaß boten sie Karrieremöglichkeiten, kleingeschrieben, waren also Garant dafür, eine Wohnung zu bekommen, einen Posten zu kriegen. Mit dem Zerfall der verstaatlichten Industrie und vieler Einflussmöglichkeiten der Parteien hat das abgenommen.

Heißt: Die dankbare Treue gegenüber der Partei ist weg.

Ja. Aber die Sache geht tiefer. Es gibt keine politische Programmatik mehr, keine Zielorientiertheit, die verbunden wäre mit einer klar umschriebenen Interessenspolitik. Die wird tendenziell ersetzt durch eine Politik des Ressentiments.

Deshalb interessiert uns jetzt die Moral der Politiker?

Weil man nicht mehr wirklich weiß, wofür die großen Parteien stehen, geht es im Diskurs auch nicht mehr um den Inhalt, sondern zunehmend um die persönliche Anständigkeit. Immer öfter wird vom Persönlichkeitswahlrecht gesprochen – das ich grundsätzlich begrüßen würde. Aber wenn die persönliche Integrität im Zentrum steht und nicht die Positionierung der Partei, sind die Konturen eben weg.

War die Integrität früher größer? Der AKH-Skandal, der Noricum-Waffendeal, die rote Freunderl-Partie im Club 45 des Udo Proksch, das war ja auch nicht ohne.

Sie haben völlig recht. Die politische Moral, ja die Alltagsmoral hat sich nicht verändert. Die Lucona-Affäre (Versicherungsbetrug mit versenktem Schrott und umgekommenen Seeleuten, Anm.), ein SP-Außenminister, der mit dubiosen Papieren seinen Haberer Proksch entlastet – das waren doch ganz andere Dimensionen, als wenn heute jemand auf die Jagd geht und ein Murmeltier erschießt. Aber die Empfindsamkeit der Öffentlichkeit gegenüber solchen Dingen ist gewachsen.

Sind die Parteien über eine "neue Anständigkeit" und Benimm-Regeln zu retten?

Ich verstehe durchaus, dass man sich solche symbolischen Akte setzt, halte aber nicht viel davon. Die neue Moral wird immer noch die ganz alte sein. Und verwechseln darf man das alles nicht mit der schon lange vorherrschenden bürokratiefeindlichen Rhetorik. Eine starke und selbstbewusste Bürokratie ist ein wesentliches Bollwerk gegen Korruption.

In der öffentlichen Meinung ist sie teuer, nicht immer effizient und wenig bürgernah. Und Korruption ...

Natürlich soll man freundlich sein am Schalter und nicht als maria-theresianischer Beamter Hof halten. Aber dass das staatlich-administrative Handeln nach strikten, objektivierbaren Kriterien vor sich geht, das ist doch die Voraussetzung für Korrektheit. Der Staat ist eine Institution hoheitlicher Gewalt. Wenn man die zerstört, heißt das, dass man die Gewalt privatisiert und unberechenbar macht.

Also nix "Mehr privat, weniger Staat"?

Das hatte in einer bestimmten historischen Situation seine Berechtigung, etwa wenn es um die Verstaatlichte Industrie ging, die ja nie verstaatlicht, sondern immer verparteilicht war im schönen Proporz. Aber die tendenzielle Abschaffung des Berufsbeamtentums unter dem Titel Bürokratieabbau halte ich für einen Irrweg. Denn immerhin: Die Pragmatisierung ermöglicht grundsätzlich den Widerstand gegen parteiliche Einflussnahme.

Na, da gibt es aber viele schöne Gegenbeispiele.

Klar weiß ich, dass es auch viel Untertanengeist gibt.

Die alten Parteien erodieren, und die neuen Bewegungen bestehen bei uns entweder aus Altpolitikern, die plötzlich wissen, wie’s besser geht, oder aus Ahnungslosen wie den "Piraten", die das Internet als Politik- und Demokratie-Vehikel entdeckt haben. Pest oder Cholera?

Also die Altpolitiker à la "Mein Österreich", das sind Leute mit sehr ehrenwerter Vergangenheit, aber ohne Zukunft. Das sind alte verbrauchte Männer, ich darf das sagen, weil die sind jünger als ich. Solche Bewegungen wie die "Piraten", die überhaupt keine Programmatik haben, deuten doch etwas Neues an. Und der elektronische Zusammenschluss der ganzen Menschheit über den Cyber-Space weckt bei vielen Erwartungen. Mit der Gefahr beziehungsweise Wahrscheinlichkeit großer Enttäuschungen.

Warum?

Zunächst: Nähe, nicht Distanz schafft Friktionen. Man ist auf den Nachbarn böse, wenn der Wirbel macht, wenn er das in Sankt Pölten macht, ist mir das völlig gleich. Das heißt: Dass die Ideologie der Nähe zu einer Humanisierung führt, ist ein grundlegender Irrtum. Und die Vernetzung der gesamten Menschheit macht aus der Menschheit kein sich selbst wohlwollendes Subjekt, sondern verschärft Konflikte.

Eine Erwartung, die von den "Piraten" geschürt wird, ist die grenzenlose Freiheit im Netz samt völliger, nicht nur politischer Transparenz – außer wenn es um Datenschutz gegenüber den Behörden geht.

Eines der Schlagworte heute ist Transparenz. Alles Private ist politisch, sagten die 68er – ich hielt das immer für eine gefährliche Drohung. Die wesentlichen Errungenschaft der bürgerlich-liberalen Gesellschaft ist die Trennung von Öffentlichkeit und Privat und die Schaffung von Arkanbereichen (von der Öffentlichkeit abgeschlossene Orte, Anm.). Wissen Sie, woher der Slogan "Stadtluft macht frei" kommt? Dass der Nachbar in der Anonymität der Stadt nicht dauernd schaut und weiß, was man tut, während auf dem Land jeder über jeden alles weiß. Eine wirklich transparente Gesellschaft ist eine totalitäre Gesellschaft.

Die uneingeschränkte Freiheit im Netz bedroht, abgesehen von Urheberrechten, gesellschaftliche Eckpfeiler der Freiheit?

Ja. Aber vielleicht hat diese Suche nach vermeintlicher Freiheit auch mit der Politik zu tun. Da die großen politischen Visionen verschwunden sind, erschöpft sich das politische Handeln in einer Mikronormierung des Alltags. Helmpflicht, Rauchverbote, Regeln hier und Regeln dort bis in die kleinsten Lebensbereiche – einzeln vielleicht alle vernünftig, aber in ihrer Gesamtheit ergeben sie einen Rahmen, den ich eigentlich nicht will.

Woran liegt eigentlich die Bereitschaft, sich im Netz völlig zu öffnen, seine Daten preiszugeben, wo einem das Private doch so wichtig ist und wir bei der Vorratsdatenspeicherung aufschreien?

Es gibt ein zunehmende Erosion von sozialen Gruppierungen, Familien, politischen Organisationen, langen Berufskarrieren – also von stabilen, identitätsbildenden Sozialstrukturen. Der flexible Mensch, die Ich-AG wird verlangt und durch die Bedingungen rundum auch hergestellt. Das führt zu einer Vereinzelung. Da suchen die Menschen wieder Sozialkontakte – und am leichtesten sind sie zugänglich im Netz. Dort hat man Freunde, ich weiß nicht wie viel Hundert, die man nie gesehen hat. Zugleich weiß man nie, vor wem man sich da entblößt. Aber wenn Sie sich von so etwas ausschließen, dann werden Sie zum Sonderling. Das ist der Sog der Allgemeinheit – so wie wir beide hier sitzen und keine Krawatte mehr tragen.

Die Verlagerung des politischen Diskurses auf die Ebene der neuen Medien ist nicht mehr aufzuhalten?

Das glaube ich, ja. Im Internet hat sich mit den sozialen Plattformen ein völlig neues Aktionsfeld aufgetan. Aber ich bin überzeugt: Dort werden sich bald die gleichen Kämpfe und Konflikte und Reibungen abspielen, die sich vorher ohne Netz abgespielt haben. Die Cyber-Demokratie wird so nicht stattfinden. Denn die Leute werden sehr bald draufkommen, dass eine reine Demokratie etwas ist, das gar nicht wünschenswert ist.

Das Gegenteil wird, nicht nur von den "Piraten", propagiert: Alle sollen demokratisch an Entscheidungen teilhaben, mitbestimmen …

Es gibt kein Schlagwort, das so verwahrlost ist, wie der Begriff Demokratie. Alles was einem nicht passt, nennt man undemokratisch. Was wir heute landläufig unter Demokratie verstehen, sind staatliche Organisationsformen, bei denen Demokratie ein wichtiges, aber eben nur ein Element ist. Ebenso wichtig sind Rechtsstaatlichkeit, Bürokratie, Gewaltentrennung in Legislative, Exekutive und Judikatur. Und dann haben Sie noch Demokratie und Wahlen als Element der Machtkontrolle. Jetzt gibt’s präsidiale Demokratien, parlamentarische Demokratien …

Aber auch direkte Demokratien wie die Schweiz.

Und auch die ist nur eingeschränkt direkt. Und was eine Partei betrifft, die alles ihre Mitglieder entscheiden lässt: Eine Partei ist parteilich, per definitionem. Wenn sie im Netz Umfragen macht, dann wird eine Position ermittelt, und jede dieser Positionen provoziert Gegenpositionen oder entsteht aus Gegenpositionen. Nur das Volk zu fragen, ergibt noch keine politische Richtung. Zumal das Volk jener Teil der Nation ist, der nicht weiß, was er will. Und auch die "Piraten" werden sich auf klassische Inhalte werfen müssen, es wird um Verteilungsfragen gehen, um Steuerfragen, etc., da werden sich Gruppen bilden, und dann haben Sie die alten Konflikte auch dort.

Die Großparteien sind am Ende, die Altpolitiker haben keine Zukunft, die Internetparteien werden so auch nicht auf Dauer reüssieren – was kommt dann nach dieser Zeitenwende?

Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass sich die alten politischen Lager schon noch sehr lange halten werden, sehr verkleinert, aber sie werden nicht verschwinden. Übrigens: Der Erosionsprozess der ÖVP wird gerne mit dem der Democrazia cristiani in Italien verglichen –, aber der Vergleich hinkt. Die DC hat ihre Raison d"être daraus bezogen, die Kommunisten von der Macht fernzuhalten, und sie brach zusammen, als die KPI weg war.

Und die ÖVP hat sich mit dem ideologischen Gegner Jahrzehnte die Macht geteilt.

Den Gegensatz als Existenzgrundlage gab’s in dieser Form nicht. Und der einstige Klassengegensatz zwischen SPÖ und ÖVP ist mit der Zeit durchlässiger, die Parteien sind diffuser geworden. So wie das Kleinbürgertum so etwas wie eine universale Klasse geworden ist. Der Bürger ist heute "der kleine Mann, der sich nichts vormachen lässt".

Die einfachen Rezepte der FPÖ lässt er sich aber gerne vormachen. Wieso ist sie von der Erosion der Traditionsparteien nicht betroffen?

Weil die FPÖ nicht an der Macht ist. Aber das wird sich, fürchte ich, ändern, und hat sich schon einmal geändert.

Woran liegt die Unzufriedenheit mit der Politik in einer Zeit, wo es uns objektiv so gut geht wie noch nie?

Genau daran. Weil es uns so gut geht. Da passt das Hegel-Wort von der "Trauer der Vollendung". Es gibt für die Masse der Menschen in Kern­europa keine wirkliche Peitsche der Not oder eine Dramatik, um aus einer Lage herauszukommen. Politik war immer dann eine organisierende und legitimierende Kraft, wenn sie vektoriell war, meistens gegen etwas. Mit einem saturierten Unbehagen kann sie nicht umgehen.