Politik/Inland

"Jugendliche haben das Gefühl, nicht gut genug zu sein"

Er war Schulabbrecher, er war Lehrer. Er ist als Flüchtling nach Österreich gekommen und hat sich zum Manager hochgearbeitet. Heute ist Ali Mahlodji EU Jugendbotschafter und Inspirationskünstler. Er hat das Start-up Whatchado gegründet und mit seinen Vorträgen bisher 50.000 Jugendliche in sieben Ländern neue Perspektiven aufgezeigt.

KURIER: Warum haben Jugendliche heute Schwierigkeiten, sich für einen Job zu entscheiden?

Ali Mahlodji: Ich war gerade erst in Kärnten bei 300 Jugendlichen, mehrheitlich Lehrlingen. Und ich wurde geholt, weil die Jugendlichen keine Perspektive haben – angeblich wollen und können sie nicht. Bei meinen Vorträgen habe ich aber noch nie Jugendliche gesehen, die nicht wollen oder können, sondern nur welche, die das Gefühl haben, sie sind nicht gut genug.

Woher kommt das?

Am Tag deiner Geburt weißt du nicht, dass es so etwas wie eine Karriere gibt. Am Tag deiner Geburt hast du auch keine Sprache gesprochen, aber: Das Gehirn, das Potenzial und vor allem der innere Wille, Teil einer Gesellschaft zu sein, hat jedes Kind dieser Welt dazu gebracht, aus dem Nichts heraus die Muttersprache zu lernen. Genauso haben wir gelernt, aufzustehen und zu gehen. Für unser Gehirn ist das Aufstehen und das Bewegen irrsinnig komplex. Kinder fallen 40 bis 100 Mal auf die Schnauze bevor sie es schaffen, aufzustehen und zu gehen. Wenn es hinfällt, macht das Kind einen Fehler, aber es weiß nicht, dass es ein Fehler ist. Für das Gehirn ist das der ganz normale Lernprozess. Wir kommen in die Welt, wir sind kreativ, wir wollen alles machen und wir hinterfragen auch alles.

Aber dann passiert etwas: Du kommst in ein System – in dem Fall in die Schule – , wo du von Tag eins lernst, gehorsam sein zu müssen. Du musst Respekt haben – das ist quasi eine Unterwerfung. Dieser Mensch erklärt dir etwas und egal, ob es dein Potenzial will oder nicht, musst du das aufsaugen. Du lernst in der Schule auch nicht, dir kreativ Inhalte zu erarbeiten, sondern du bekommst es vorgefertigt durch Schulbücher und dann ist deine Aufgabe, es genauso wiederzugeben, wie es diese Person von dir will.

Und dann wirst du benotet: Wenn du das gut machst, bist du ein braver Schüler. Wenn du das nicht gut machst, weil deine Talente das noch nicht so hergeben, dann bist du nicht gut. Eine Bewertung kommt im Gehirn einer Verletzung gleich. Wenn die Verletzung körperlich wäre, würden wir das sehen, aber im Geist nicht. Und jetzt wird dieses Kind dauernd bewertet. Wir haben Gehen gelernt, indem wir auf die Schnauze gefallen sind, aber wir wussten nicht, dass es ein Fehler ist. Plötzlich sagt jemand: Erst, wenn du Null Fehler machst, bist du gut.

Was ist heute anders als früher?

Wir müssen heute als Erwachsene verstehen, es gab zwei sichere Komponenten in der früheren Welt: den sicheren Arbeitgeber und den Staat, der sich später dann um uns kümmert. Beide dieser Systeme existieren zwar noch immer, aber sie geben nicht mehr dieselbe Sicherheit. Jugendliche heute sehen, dass es keine sichere Arbeit mehr gibt und das Pensionssystem auch nicht mehr stark ist – sie hören aber die ganze Zeit, du musst dich für einen Job entscheiden, weil die Eltern davon ausgehen, dass es noch immer so ist, dass man sich für einen sicheren, lebenslangen Job entscheiden muss. Allein heute gibt es weltweit über 100.000 Jobtitel, von denen es die Hälfte vor zehn Jahren nicht gab. Vor zehn Jahren wurden Kinder, die angefangen haben, auf YouTube Videos hochzuladen, von den Eltern ausgelacht. Heute gibt es den Job des YouTubers. Die haben eigene Unternehmen gegründet, haben vier bis fünf Angestellte und eine größere Reichweite als der ORF und andere Fernsehsender zusammen.

Niemand weiß, wie die Welt in zehn Jahren aussieht, weil allein 65 Prozent der Jobs, die wir in zehn Jahren machen, noch gar nicht existieren.

Was können Erwachsene besser machen?

Indem sie anerkennen, dass das Kind nicht weiß, was es in zehn Jahren macht. Wenn man Kindern das Vertrauen gibt, dass sie gut genug sind wie sie sind und nicht repariert werden müssen, fangen die schlimmsten Kinder in den Brennpunktschulen plötzlich an, eigene Projekte zu entwickeln. Sie stehen auf und sagen, ich schaffe die Schule jetzt nicht, aber ich mache später die Abendschule. Solche Veränderungen gibt es laufend, wenn du die Betreuung angehst. Wenn du den Kindern klar machst, heute gibt es veränderte Lebenswelten und wenn die Eltern Druck machen, dann ist das, weil sie Angst haben. Dieses Wissen, dass es diese Sicherheit mit dem einen Job und der sicheren Pension nicht mehr gibt und dass die Kinder ihr eigenes Potenzial und ihre Flexibilität entdecken müssen, das ist der große Trick – auch bei der Lehrlingsausbildung.

Warum hat die Lehre ein schlechtes Image?

Die Lehre ist eine der besten Ausbildungen der Welt. Nach drei Jahren bist du im Normalfall eine wirklich gute Fachkraft. Ich war vor ein paar Wochen bei der Berufsmesse und habe von Großeltern gehört: Die Matura zählt, jemanden mit Lehre kann man abschreiben. Die Matura ist aber längst kein Garant mehr für einen Job.

Ich habe vorige Woche mit einem Wirtschaftsforscher geredet und der hat erzählt, alle wollen derzeit Programmieren lernen. Aber wir waren uns einig: Weltweit wird aber an künstlicher Intelligenz gearbeitet. Wenn wir jetzt alle in der Schule Programmieren lernen und in zehn Jahren gibt es eine künstliche Intelligenz, die alles automatisch programmieren kann, dann haben wir wieder lauter Arbeitslose.

Wäre es dann nicht besser, Jugendliche dazu zu erziehen, dass sie verstehen, was sie gut können, wo ihr Potenzial liegt? Kinder brauchen eine Flexibilität in Gedanken mit auf den Weg, sodass sie wissen: Das kann ich gut, das gefällt mir, das mach ich!

Wie sehr spielt das Geld eine Rolle bei der Entscheidung?

Je nachdem, wie sehr es die Eltern in den Mittelpunkt stellen. Ich habe Kindern erst unlängst wieder meine Geschichte erzählt, wie es für mich wahr, Unternehmensberater zu sein, 5000 Euro im Monat zu verdienen, ich hatte Aktien und einen Audi A4 – und ich habe ihnen erzählt, was für ein Gefühl das ist, wenn du nicht glücklich bist. Viele Kinder, die an Geld denken, haben das von zuhause gehört. Da wird Sicherheit mit Geld gleichgesetzt. Früher war es auch das wichtigste Gut. Heute suchen junge Menschen den Sinn in dem, was sie tun, weil sie wissen, du kannst mir noch so viel Geld geben, aber der Reiz nimmt ab, wenn der Job keinen Sinn gibt oder keinen Spaß macht. Die Leute, die dem Geld hinterher rennen, sind auch die, die mit 50 meistens eine Lebenskrise haben. Wenn man seine Ängste aus seiner eigenen Vergangenheit einem Kind weitergibt, dann kann man das Leben des späteren Erwachsenen ruinieren.

Was sagen Sie zu Menschen, die argumentieren, wenn jeder einen Job macht, der ihm Spaß macht, haben wir irgendwann ein Ungleichgewicht, weil jeder zum Beispiel YouTuber werden und niemand in der Landwirtschaft arbeiten will?

Das ist schlicht und einfach gelogen. Vor der Industrialisierung waren 70 Prozent der Menschen als Bauern selbstständig. Dann wurden diese Menschen von der Industrie mit Geld und Lebensstandard gelockt – und jetzt haben wir eine Gesellschaft, die Menschen am Arbeitsmarkt immer mehr unter Druck setzt. Die Zahl der Verschreibung von Antidepressiva geht bei der Gebietskrankenkassa immer weiter nach oben – die Zahl der Krankenstandstage bleibt aber etwa gleich. Dieser Lebensstandard hat uns dazu gebracht, dass wir längst nicht mehr die Jobs machen, die wir wollen. Es gibt so viele Jobs da draußen: Das Ungleichgewicht werden wir nicht haben, wenn alle machen, was sie wollen – das Ungleichgewicht haben wir jetzt.