Politik/Inland

Der 1. Mai beginnt mit einem Massaker

Gewöhnlich wird der 1. Mai mit dem traditionellen Maibaumkraxeln und der ausgelassenen Festzeltstimmung verbunden, mit Spielen für Kinder und Bier für Erwachsene. Jährlich gehen an diesem Tag Millionen Menschen auf die Straßen; in Wien zieren roten Nelken den Rathausplatz, in Moskau werden schon mal Stalin-Porträts in die Höhe gehalten und in Deutschland kommt es zu Krawallen (siehe Video unten).

Ja, das alles gehört zum "Tag der Arbeit", der 1890 zum ersten Mal weltweit begangen wurde.

Ein Zimmermann für den Acht-Stunden-Tag

Dass der 1. Mai gebührend gefeiert wird, hat lang zurückliegende Gründe. Die Vorgeschichte beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts, als immer mehr Arbeiterorganisationen die Einführung eines Acht-Stunden-Tages fordern. Der erste der sich dafür - aus persönlichen Gründen wohlgemerkt - einsetzt, ist der Zimmermann Samuel Duncan Parnell. Die Arbeitszeitverkürzung ist ihm ein großes Anliegen, für die britische Gewerkschaft ist er aber nicht radikal genug. Ihm wird die Mitgliedschaft verweigert. Parnell quittiert seine Arbeit und wandert 1839 nach Neuseeland aus.

In der Hauptstadt Wellington angekommen, bietet ihm ein Mitreisender namens George Hunter einen Job an. Parnell zögert und argumentiert: "Uns wurden 24 Stunden pro Tag gegeben, acht davon sind für die Arbeit gedacht, acht fürs Schlafen und acht Stunden für die Freizeit, in der Männer das tun, was sie wollen. Ich starte morgen um 8 Uhr unter diesen Bedingungen."

Hunter ist empört: "Herr Parnell, Sie wissen ganz genau, in London arbeitet man zwölf Stunden." Parnell aber bleibt hartnäckig. "Wir sind nicht in London", sagt der damals 30-Jährige, dreht sich um und geht. Weil es in der britischen Kolonie an Fachkräften mangelt, akzeptiert Hunter die Bedingung. Der Zimmermann Parnell arbeitet keine Minute länger als acht Stunden pro Tag. Ein Erfolg, der sich herumspricht.

Ein Massaker am 1. Mai in Chicago

Ein Vierteljahrhundert später nehmen 1865 US-amerikanische Gewerkschaften den Ball auf und fordern erstmals die Einführung des Acht-Stunden-Tags. Im Mutterland des Kapitalismus regt sich Widerstand, bahnt sich ein Klassenkampf an. Auf den Straßen demonstrieren aufgebrachte Arbeiter für ein menschenwürdigeres Leben und gegen die Willkür der Arbeitgeber. Es vergehen jedoch weitere zwanzig Jahre bis man richtig aktiv wird. Erst im Oktober 1884 ruft die Arbeiterbewegung zu einem mehrtägigen Streik auf, beginnend mit 1. Mai 1886.

"Man kann nicht ewig wie ein Stück Vieh leben."


Dass die Wahl auf den 1. Mai fällt, hat einen banalen Grund: Etwaige Ergebnisse des Streiks könnten sofort in den neu abgeschlossenen Verträgen aufgenommen werden, weil dieser Tag in den USA traditionell als "moving day" gilt. Wer seinen Wohnort oder Job wechselt, macht es für gewöhnlich am 1. Mai.

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Zwischen 300.000 und 500.000 Beschäftigte aus 11.000 Betrieben nehmen an den Protestmärschen teil. In Chicago versammeln sich am Abend des 1. Mai Tausende Menschen am Haymarket Square, wo der Chefredakteur und Herausgeber der Arbeiter-Zeitung, der aus dem nordhessischen Friedewald stammende August Spies, eine Rede hält: "Man kann nicht ewig wie ein Stück Vieh leben."

Die Lage ist angespannt. Zeitungen hetzen gegen die Arbeiter. "Gefährliche Schurken befinden sich auf freiem Fuß. Statuiert an ihnen ein Exempel!" steht in der Presse. Die Miliz wird in Alarmbereitschaft versetzt.

Die Demonstrationen beginnen zunächst friedlich, doch am dritten Tag eskaliert die Lage. Polizisten versuchen eine Kundgebung aufzulösen und erschießen sechs Arbeiter.

Einen Tag später kommt es erneut zu einer Auseinandersetzung zwischen Beamten und Demonstranten. Eine Bombe detoniert am Haymarket Square, die Polizei eröffnet daraufhin das Feuer und schießt wahllos in die Menge. Wie viele Menschen tatsächlich sterben, wird nie ermittelt. Sieben Polizisten verlieren ihr Leben beim Anschlag.

Erster 1. Mai-Aufmarsch

Am nächsten Tag wird im ganzen Land das Kriegsrecht ausgerufen. In der Bevölkerung macht sich Panik breit, man hat Angst vor der "roten Gefahr". Für den blutigen Vorfall werden die Organisatoren in Chicago abgestraft. Die Polizei nimmt acht Arbeiterführer fest, unter ihnen auch August Spies.

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"Die Zeit wird kommen, wo unser Schweigen stärker ist, als die Stimmen, die Sie heute erdrosseln."


Drei Monate nach dem Massaker am Haymarket Square werden sieben zum Tode verurteilt, einer zu 15 Jahren Zuchthaus. Später werden zwei Todesurteile in lebenslange Haft umgewandelt. Nicht aber jenes von Spies. Er und drei seiner Kollegen werden durch den Strick hingerichtet - ein Verurteilter begeht einen Tag zuvor Selbstmord.

"Die Zeit wird kommen, wo unser Schweigen stärker ist, als die Stimmen, die Sie heute erdrosseln", soll Spieß vor seinem Tod gesagt haben. Bei der Beerdigung der Hingerichteten nehmen 25.000 Menschen teil.

Eine Schuld konnte den Arbeiterführern nie nachgewiesen werden.

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In Erinnerung an die Getöteten wird der 1. Mai zwei Jahre später 1888 vom US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverband zum "Kampftag der Arbeit" auserkoren. Dem schließt sich auch die Zweite Sozialistische Internationale (Arbeiterpartei) bei ihrem Gründungskongress im Jahr 1889 in Paris an. Ein Jahr später gehen Millionen Menschen auf die Straßen, um der getöteten Arbeiter zu gedenken - die Polizei steht in höchster Alarmbereitschaft.

In Neuseeland nimmt der mittlerweile 80 Jahre alte Zimmermann Samuel Duncan Parnell als Ehrengast an der ersten 1. Mai-Demonstration teil. Er und seine Verdienste werden gefeiert.

Österreich: Vom "Rebellensonntag" zum Staatsfeiertag

Auch Österreich unterstützt die Arbeiterbewegung. Viktor Adler, Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, schreibt in der 1889 erschienenen Arbeiterzeitung: "Es ist sehr schön, der 1. Mai, und die Tausende von Bourgeois und Kleinbürgern werden es den Hunderttausenden von Proletariern gewiss gerne vergönnen, sich einmal das Erwachen der Natur, das alle Dichter preisen und wovon der Fabrikszwängling so wenig bemerkt, es in der Nähe zu besehen."

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Zum offiziellen Festtag wird der 1. Mai in Österreich erst nach dem Ende der Monarchie. 1919 beschließt die Nationalversammlung, den 1. Mai zum "allgemeinen Ruhe- und Festtag" zu erheben. Der "Rebellensonntag" von einst wird zum Staatsfeiertag.

Die Sozialdemokraten in Wien führen ab 1921 ihren Aufmarsch über die Ringstraße zum Rathausplatz, wo die Abschlusskundgebung stattfindet - auch heute noch.

Zur Zeit des Austrofaschismus (1933-1938) verbietet Bundeskanzler Engelbert Dollfuß allerdings alle Straßendemonstrationen und nimmt den Maifeiern ihre traditionellen Inhalte. Der "Tag der Arbeit" wird zum "Tag der Verfassung". Festgottesdienste, Militärparaden und Huldigungszüge der Stände prägen nun die 1. Mai-Kulisse.

Anschlag überschattet 1. Mai 1981

Ab 1939 wird wieder gefeiert, jedoch unter anderen ideologischen Vorzeichen. Unter dem NS-Regime wird der Tag als "Tag der nationalen Arbeit" begangen. In Deutschland sind es ausgerechnet die Nazis, die dem Tag zu der Ehre verhelfen, ein gesetzlicher Feiertag zu sein.

Zwischen 1945 und 1949 hat Österreich keinen Staatsfeiertag, die 1. Mai-Feiern finden trotzdem statt. Per Gesetz wird der "Tag der Arbeit" bereits 1949 als Staatsfeiertag wieder eingeführt, doch als solcher erst im Jahr 1956 begangen. Die Unabhängigkeit und "immerwährende Neutralität" stehen im Mittelpunkt der damaligen Kundgebungen.

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1981 überschattet die Ermordung des Wiener Stadtrats Heinz Nittel den 1. Mai. Palästinensische Terroristen der 1974 gegründeten Abu-Nidal-Gruppe erschießen den damaligen Präsidenten der österreichisch-israelischen Freundschaftsgesellschaft, als dieser in sein Auto steigt, um zu den Feierlichkeiten am Rathausplatz zu fahren.

Gedanken zum "Tag der Arbeit"

In Österreich ist der 1. Mai Staatsfeiertag und "Tag der Arbeit" zugleich. Für viele Menschen ist er aber zuallererst ein arbeitsfreier Tag. Manche nutzen ihn, um bei Demonstrationszügen auf schlechte Arbeitsbedingungen und soziale Probleme aufmerksam zu machen; andere, um sich auszuruhen.

Am "Tag der Arbeit" vereinen sich viele Gedanken, darunter auch jener, an die Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts.

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Hinweis: Dieser Text erschien am 1. Mai 2016.