Politik/Inland

Schönborn: "Islam hat Aufklärung noch vor sich"

KURIER: Herr Kardinal, die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist nach wie vor katholisch. Nur jeder Zehnte bekennt sich zum Islam. Trotzdem bestimmt derzeit ausschließlich der Umgang mit dem Islam die öffentliche Debatte. Warum?

Kardinal Christoph Schönborn: Die Frage stelle ich mir auch. Natürlich ist der Islam eine sehr große und präsente Minderheit. Aber ich würde dazu raten, die Probleme nicht größer zu machen, als sie in Wirklichkeit sind.

Gehört der Islam zu Österreich?

Die Muslime, die hier leben und Staatsbürger sind oder werden, gehören natürlich zu Österreich.

Machen die Muslime Probleme, oder haben wir ein Problem mit den Muslimen?

Es ist beides. Der Islam ist im Moment in der größten Krise seiner Geschichte. Und es ist noch gar nicht ausgemacht, wie diese Krise ausgeht. Es gibt weltweit sehr gegenläufige Strömungen innerhalb des Islams und eine starke Radikalisierung. Es gibt den Konflikt zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam, repräsentiert von Saudi-Arabien und dem Iran. Das, was wir im Moment im Nahen Osten erleben, ist so etwas wie der Dreißigjährige Krieg in Europa. Er dauert Gott sei Dank noch nicht solange. Aber es geht um die Vormachtstellung zwischen Schiiten und Sunniten wie damals in Europa zwischen Katholiken und Protestanten. Nach diesem Krieg bis zur Erschöpfung ist daraus in Europa die Aufklärung erfolgt: Dass man Politik und Religion trennen muss. Diese Lektion hat der Islam noch vor sich.

Ohne Trennung von Politik und Religion wird es auch in der islamischen Welt nicht gehen?

Ja, ein theokratisches Politikverständnis ist nicht vereinbar mit einer pluralistischen Gesellschaft.

In Österreich ist das Kopftuch zu einem Symbol für die Trennung von Religion und Politik geworden. Sind Sie für ein Kopftuchverbot?

Ich glaube, die Frage muss viel umfassender gestellt werden. Es ist zuerst einmal eine Frage der Erziehung der Männer: Sind Frauenhaare etwas so Gefährliches, dass man sie vor Männern verstecken muss? Es ist primär eine kulturelle und keine religiöse Frage. Ich plädiere dafür, dass das als Erziehungsfrage gesehen wird.

Wer soll hier wen erziehen? Schuldirektoren berichten, dass Gespräche mit den Eltern nichts bringen. Diese Praktiker plädieren daher für ein Kopftuchverbot als Signal an die Eltern. Halten Sie ein Kopftuchverbot zumindest bei Volksschulkindern für sinnvoll?

Das ist eine Frage, die die Politik entscheiden muss. Von religiöser Seite her bin ich gegen einen neuen Zwang und plädiere für eine Erziehung zur Freiheit. Ich setze da auf kulturelle Entwicklungen. In meiner Kindheit sind alle Frauen mit einem Kopftuch im Gottesdienst gesessen. Das ist heute völlig verschwunden. Umgekehrt hat es früher viel weniger Kopftücher bei den Muslimen gegeben. Ich vertraue darauf, dass solche Entwicklungen keine Einbahnstraßen sind.

Die Katholiken in Wien werden immer weniger. Kirchen werden daher auch anderen Religionen überlassen. Könnten Sie sich vorstellen, eine Kirche Muslimen auch als Moschee zur Verfügung zu stellen?

Das würde ich nicht für gut halten. Es gibt genug Bedarf für christliche Gemeinschaften, die sehr im Wachsen sind, etwa die Freikirchen, wie die Baptisten oder auch die Ostkirchen.

Schwingt bei diesem Nein auch mit, dass es Katholiken nicht verstehen würden, wenn ihre Kirche eine Moschee werden würde?

Sicher. Das würde ich daher auch nicht für sinnvoll halten.

Hinter der Kopftuchdebatte steht ja die große Frage der Integration und der Nicht-Integration von Parallelgesellschaften. Hier hat sich das öffentliche Debattenklima total gedreht. Von der „Willkommenskultur“ 2015 bis hin zur „Obergrenze null“. Viele katholische Gemeinden kümmern sich weiter rührend um Flüchtlinge, fühlen sich aber zunehmend in Stich gelassen. Erleben Sie das in den Pfarren auch so?

Ja. Es gibt viele Pfarren, die auch diesmal Flüchtlinge aufgenommen haben. Die sind zum Teil sehr gut integriert, es sind Freundschaften entstanden. Wenn dann plötzlich eine Abschiebung kommt, ist das nicht nur ein Drama für die Flüchtlingsfamilien, sondern auch für die Menschen, die sich intensiv um sie gekümmert haben. Deshalb sagen wir Bischöfe: Wir verstehen, dass das geltende Recht eingehalten werden muss. Es gibt aber das legale Instrument des humanitären Bleiberechts. Wir ersuchen daher um ein differenziertes Hinschauen.

Gibt es für Sie so etwas wie eine Obergrenze der Sozialverträglichkeit bei der Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen?

Also bei den derzeitigen Flüchtlingszahlen sind wir weit unter der Verträglichkeitsgrenze. Dass die Situation von 2015 so nicht weitergehen konnte, darüber besteht Konsens. Aber die extrem restriktive Politik unserer östlichen Nachbarn, die überhaupt keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen, geht zu weit.

Aber genau das will auch Innenminister Herbert Kickl, der dafür ist, dass Asylanträge nur noch außerhalb Europas gestellt werden dürfen.

Er hat das bereits relativiert.

Wäre Kickls Vorschlag unchristlich?

Er wäre unvernünftig und gegen geltendes internationales Recht.

Das zweite große Megathema hinter der Flüchtlingsdebatte ist die soziale Frage. Viele Menschen haben das Gefühl, dass für Asylwerber alles und für sie wenig getan werde. Braucht Österreich mehr Sozialstaat oder einen treffsichereren Sozialstaat?

Wir haben Gott sei Dank sehr hohe soziale Standards. Ich denke mit Schrecken an die USA, wo man für den Spitalsaufenthalt eine Kreditkarte braucht. Da gehören wir zu den Spitzenländern, was soziale Sicherheit betrifft. Bei der Frage der Treffsicherheit muss ja immer nachjustiert werden. Da der Sozialstaat aber immer missbraucht werden kann, muss das kontrolliert werden.

Sind die Pläne zur Kürzung der Mindestsicherung ein Beitrag zur Erhöhung der sozialen Treffsicherheit oder geht das zu weit?

Ich bin zu wenig Experte, um ein Urteil abzugeben. Ich hoffe nur, dass es gelingt, dass alle Bundesländer gemeinsame Sache machen. Dazu braucht es einen ehrlichen und offenen Diskurs.

Für die Kirche tritt in diesen Fragen meist die Caritas auf. Hat diese nach den Meinungsverschiedenheiten, die Sie mit ihr hatten, noch Ihr volles Vertrauen?

Es gab nur eine Meinungsverschiedenheit in der Prozedur, nicht in der Sache selber. Wir Bischöfe und die Caritas sind in ständigen Kontakt.

Wenn die Caritas spricht, dann spricht die Caritas der katholischen Kirche. Die Caritas ist die Lobby für die, die keine Lobby haben. Sie soll sich nicht nur um die Armen kümmern, sie soll auch eine Stimme für die Armen sein.

Die Caritas sieht ausdrücklich ihre Aufgabe auch darin, im Widerspruch zum Mainstream in der Gesellschaft zu stehen. Sehen Sie das auch so radikal?

Der legendäre Caritas-Präsident Prälat Leopold Ungar hat gerne gesagt: „Jesus hat die Kirche nicht zum Jasagen gegründet.“ Es gibt Momente, in denen Widerspruch angesagt ist. Es darf nur nicht der permanente Widerspruch sein. Daher gibt es ja auch zwischen den politischen Verantwortlichen und der Caritas im Großen und Ganzen eine sehr gute Kooperation.