Politik/Inland

Ruth Maier: Österreichs Anne Frank

„Wir schlüpften wie gehetztes Wild ins Haus, keuchten die Stiegen hinauf. Dann begann es: Sie schlugen, sie verhafteten, zerdroschen Wohnungseinrichtungen, etc. Wir saßen alle so bleich zu Haus, und von der Straße kamen Juden zu uns, wie Leichen.“

Es ist der Abend des 11. November 1938, als Ruth Maier diese Zeilen in ihrem Tagebuch festhält. Auf den Straßen von Wien lassen brandschatzende Nazis ihrem Zorn freien Lauf. Maier ist gerade 18 Jahre alt geworden. Und im rasenden Terror beginnt die Schülerin über etwas nachzudenken, was sie bis dahin nicht wesentlich beschäftigt hat, nämlich: die Tatsache, dass sie Jüdin ist.

Historische Bedeutung

Ruth Maier: Der Name ist hierzulande nur ganz Wenigen bekannt. Dass das Schicksal der jungen Österreicherin überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde, ist Jan Erik Vold zu verdanken.

2007 sichtete der Schriftsteller den Nachlass von Gunvor Hofmo, der bekanntesten norwegischen Lyrikerin des 20. Jahrhunderts. Unter Hofmos Dokumenten fand er ein Tagebuch. Das Tagebuch ihrer Freundin Ruth Maier. Hofmo hatte es ein halbes Jahrhundert lang aufbewahrt.

Vold erkannte sofort die literarische und historische Bedeutung“, sagt Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW).

Gemeinsam mit dem norwegischen Holocaust- und Minderheiten-Forschungszentrum hat das DÖW eine Ausstellung kuratiert, die seit wenigen Tagen im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York gezeigt wird. Seit 2014 sind Maiers Dokumente Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes „Memory of the World“.

Antisemitismus auf den Straßen Wiens

„Zu den für uns interessantesten Tagebucheintragungen gehören jene, in denen Ruth Maier den täglichen Antisemitismus auf den Straßen Wiens zwischen März und November 1938 dokumentiert“, sagt DÖW-Experte Garscha. „Was mich persönlich tief beeindruckt, ist die vor Zorn zitternde Fassungslosigkeit eines 17-, 18-jährigen Mädchens über die Demütigungen und körperlichen Übergriffe, denen Juden ausgesetzt waren – einfach, weil es ein paar Nazis Spaß machte, auf offener Straße einem Juden ein paar runterzuhauen.“

Doch wie kam das Tagebuch überhaupt nach Norwegen? Dazu muss man wissen, dass Maiers Mutter alles daran setzte, die Töchter vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Nachdem der jüngeren Schwester Judith Ende 1938 die Flucht nach England gelungen war, gab es im Jänner 1939 auch für

Ruth einen Weg: Über Gewerkschaftskontakte des verstorbenen Vaters landet sie bei einem norwegischen Ehepaar in Lillestrom, einer Kleinstadt nahe Oslo.

Kurz ist sie hier vor der Verfolgung sicher. Sie lernt Norwegisch, will die Matura schaffen und weiter nach Amerika oder England, wohin Mutter und Schwester fliehen konnten.

"Zwillingsseele"

1940 lernt Maier die Lyrikerin Gunvor Hofmo kennen. Sie werden Freundinnen, leben zusammen. Im selben Jahr wird Norwegen von den Nationalsozialisten besetzt – und alle Pläne zerschlagen sich: Das Quisling-Regime kollaboriert mit den Besatzern.

1942 wird Maier verhaftet, deportiert – und fünf Tage später im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

Wer die Geschichte der Ruth Maier liest, fühlt sich unweigerlich an Anne Frank erinnert. Wie Frank führte Maier Tagebuch. Wie Frank flieht sie – vergeblich – ins Exil. Und wie Frank stirbt Maier im KZ.

„Warum sollen wir nicht leiden, wenn soviel Leid ist?“, schrieb Maier auf dem Weg ins Vernichtungslager an ihre Freundin. „Sorg’ dich nicht um mich. Ich möchte vielleicht nicht mit dir tauschen.“ Hofmo konnte ihr den Wunsch nicht erfüllen. Die Dichterin überwand den Verlust nie wirklich. Wie sollte sie auch? Für Gunvor war Maier ihre „Zwillingsseele“ – „und der eine Zwilling starb“.