Kurt Schuschnigg jun.: "Was hätte mein Vater denn anderes tun sollen?"
Von Georg Markus
Er ist der Kronzeuge des Untergangs. Kurt Schuschnigg ist der Sohn des letzten Kanzlers der Ersten Republik. Jenes Kanzlers, der genau heute vor 80 Jahren mit den legendären Worten "Gott schütze Österreich" erklärte, dass seine Regierung "der Gewalt weichen" würde. Schuschnigg ist 91 Jahre alt, lebt in den USA und hält sich derzeit in Wien auf. Für den KURIER erinnert er sich an die bangen Stunden an der Seite seines Vaters. Und er verteidigt dessen Politik in den Märztagen des Jahres 1938.
"Ja, was hätte er denn anderes tun sollen?", meint Kurt Schuschnigg. "Es wäre doch reiner Selbstmord gewesen, das Bundesheer gegen Hitlers Truppen aufmarschieren zu lassen. Und es wäre aussichtslos gewesen. Wenn uns nur ein einziges Land beigestanden wäre, hätte die Sache anders ausgesehen. Aber Österreich stand ganz alleine da."
Kurt von Schuschnigg – er ist sowohl österreichischer als auch Staatsbürger der USA, wo sein Name samt Adelstitel registriert wurde – glaubt fest daran, dass sein Vater in der Schicksalstunde Österreichs richtig gehandelt hat. 1926 in Innsbruck zur Welt gekommen, übersiedelte er sechsjährig nach Wien, als sein Vater Justizminister wurde. Schuschnigg jun. erlebte zunächst eine wohlbehütete Kindheit im Augartenpalais, am Stubenring und im Belvedere, wo seinem Vater als Regierungsmitglied repräsentative Wohnungen zur Verfügung standen. Kurt wurde von seiner Mutter, einem Kindermädchen und einer Köchin umsorgt, bekam in dieser Zeit aber seinen viel beschäftigten Vater nur wenig zu sehen.
Nach der Ermordung von Kanzler Dollfuß am 25. Juli 1934 wurde Schuschnigg mit 36 Jahren als bis dahin jüngster Regierungschef angelobt. "Was jetzt kam, hat mein Vater als größten Fehler seines Lebens bezeichnet. Er hätte nach Dollfuß’ Tod sofort eine Volksabstimmung ansetzen sollen, mit der Frage, ob Österreich ein freier, selbstständiger Staat bleiben solle. Diese Abstimmung wäre mit absoluter Sicherheit für Österreich ausgegangen. Das war, wenn man so will, sein Fehler."
Der Unfalltod der Mutter
Am 13. Juli 1935 traf die Familie Schuschnigg ein schwerer Schicksalsschlag. Der Bundeskanzler war mit seiner Familie unterwegs in den Sommerurlaub nach St. Gilgen, als der Wagen bei Linz von der Fahrbahn abkam. "Ich saß mit meinen Eltern im Auto, plötzlich prallten wir mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum." Während die anderen Insassen mit Verletzungen davonkamen, war Herma Schuschnigg, die 35-jährige Frau des Kanzlers, sofort tot. Der neunjährige Kurt hatte seine Mutter verloren.
Die Polizei hegte, genau ein Jahr nach dem Dollfuß-Mord, den Verdacht, dass der Unfall die Folge eines Attentats war. "Unser Fahrer war ein absolut zuverlässiger Mann. Er saß am Abend vor dem Unglück in seinem Stammgasthaus, trank ein Glas Bier und schlief dann an seinem Tisch ein. Das Bier wurde ihm laut Aussage des Wirten von einem Fremden spendiert. Die Annahme, dass sich jemand an seinem Bier zu schaffen gemacht hatte, liegt nahe."
"Dem Gefühl nach ein Attentat"
Der Fahrer holte die Familie Schuschnigg am nächsten Morgen in völlig übermüdetem Zustand ab und wurde auf der Fahrt ins Salzkammergut vom Sekundenschlaf überrascht. "Alles wurde untersucht, man konnte es nicht beweisen, aber wenn Sie mich nach meinem Gefühl fragen, dann war es ein Attentat", sagt der Sohn des Kanzlers heute.
Am 12. Februar 1938 wurde Schuschnigg von Hitler auf den Obersalzberg bei Berchtesgaden zitiert. Der "Führer" befahl, dass der Kanzler den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart als Innenminister in sein Kabinett holen und das Verbot der NSDAP aufheben müsse. "Das Treffen mit Hitler", sagt Schuschnigg, "war der schlimmste Tag seines Lebens. Mein Vater ist nie so gedemütigt worden wie damals. Hitler hat ihn angebrüllt wie einen Schulbuben. Es war nicht zum Aushalten für ihn."
Schuschnigg gab in allen wesentlichen Punkten nach, setzte aber für den 13. März eine Volksbefragung über die Unabhängigkeit Österreichs an. Sie war wohl der Grund, dass Hitler den Befehl zum Einmarsch gab.
Alle Freunde verloren
Mit der Auslöschung Österreichs hatte der elfjährige Kurt nach der Mutter auch seinen Vater verloren, der jetzt in Wiens Gestapo-Gefängnis gesperrt wurde. Der Sohn des Bundeskanzlers war plötzlich zum Kind des "Staatsfeindes" und "Verräters Schuschnigg" geworden, als der er von den Nationalsozialisten bezeichnet wurde. Kurt musste das Gymnasium verlassen, verlor seine Freunde, darunter den jüdischen Mitschüler Peter Mayer, der mit seinen Eltern aus Österreich geflüchtet war. Als Kurts Kindermädchen die Mutter eines Buben anrief, mit dem er immer im Belvederepark gespielt hatte, erklärte die, man solle sie nicht mehr belästigen: "Leute seines Schlages sind hier nicht willkommen."
Schuschnigg: "Ich war von einem Tag zum anderen zum Paria geworden."Der abgesetzte Bundeskanzler durfte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits in Gestapo-Haft saß, am 1. Juni 1938 Vera Fugger, eine Freundin seiner verstorbenen Frau, heiraten. Allerdings war es ihm nicht erlaubt, bei seiner eigenen Trauung anwesend zu sein, er wurde von seinem Bruder Artur vertreten. Kurt jun. durfte seinen Vater erstmals im Frühjahr 1940 in einem Münchner Gefängnis, in das er mittlerweile verlegt worden war, besuchen. "Ich stand, als ich ihn nach zwei Jahren wiedersah, unter Schock, denn es war nicht viel mehr als die Hälfte von meinem Vater übrig." Der 183 cm große Mann wog 40 Kilo. "Er hat nichts gegessen, weil er für die Mahlzeiten bezahlen musste und Angst hatte, dass seiner Familie zu wenig Geld zum Essen bleiben würde."
Die letzten vier Jahre der Nazihaft verbrachte der Ex-Kanzler im KZ Sachsenhausen bei Berlin, in dem er "Prominentenstatus" genoss und mit seiner Frau und der in seiner Haftzeit geborenen Tochter Sissi leben durfte.1945 von den Amerikanern befreit, wanderte Kurt Schuschnigg drei Jahre später in die USA aus. Sein Sohn ließ sich 1956 in Amerika nieder und wurde Kunsthändler. "Jetzt erst konnte ich mit meinem Vater über die politischen Ereignisse sprechen, denn in den USA hatten wir zum ersten Mal Zeit dazu." Schuschnigg jun. lebt heute in New York und kommt zwei Mal im Jahr nach Wien und Kitzbühel.
Schuschniggs Tod in Österreich
Schuschnigg sen. verbrachte seinen Lebensabend in Tirol, wo er 1977 knapp vor seinem 80. Geburtstag starb.
Wäre nicht vieles anders gelaufen, wenn er Österreich – als er 1934 Kanzler wurde – vom autoritären Ständestaat zurück in die Demokratie geführt hätte?
"Ja, sicher hätte man das machen können", sagt sein Sohn heute, "vielleicht hatte er auch die falschen Berater. Aber die Sozialisten waren nicht das, was sie später waren, von denen gingen damals leider viele Gewalttaten aus. Mein Vater war ein Patriot, ein Österreicher mit Leib und Seele."
Und nein, es sei keine Belastung, den Namen Kurt Schuschnigg zu tragen und damit ein Leben lang mit dem Bundeskanzler in Zusammenhang gebracht zu werden, der Österreich an Hitler ausliefern musste. "Ich habe meine Herkunft nie verleugnet. Sogar, als ich in die deutsche Wehrmacht eingezogen wurde, da hat ein Unteroffizier zu mir gesagt: ,Sie haben doch nichts mit dem Verbrecher Schuschnigg zu tun? Wenn das so wäre, würde ich Ihnen einen Stiefel auf den Kopf werfen.’ Auch da bin ich zu meinem Vater gestanden, ich war immer stolz auf ihn."