Imamin Ateş : "Als Christin würde ich protestieren"
Von Johanna Hager
KURIER: Sie sind regelmäßig zu Gast in Österreich. Woher rührt Ihre Affinität?
Seyran Ateş: Es begann mit dem Thema Zwangsverheiratung. 2005, 2006 muss das gewesen sein. Viele Österreicher stellten fest, dass wir in Deutschland betreffend der Integrationsfragen eine realistischere Einschätzung hatten, vor allem, was Parallelgesellschaften betrifft. So kam es, dass ich immer wieder nach Österreich als Vortragende eingeladen wurde. Hier wurde sehr viel zugedeckt.
Wird in Österreich jetzt mehr aufgedeckt?
Gerade am Beispiel Zwangsheirat zeigt sich, dass Österreich aufgeholt hat. Dass man nicht mehr bereit ist, alles gleich unter den Teppich zu kehren. Gleichzeitig leidet der Staat unter einer Schockstarre wie viele Nachbarländer in Europa auch. Man hat bei der Migration zu lange zugesehen und es sich zu lange schöngeredet. Und jetzt nutzen diese Nicht-Integration die rechten Parteien, um Islamfeindlichkeit zu schüren. Jedes europäische Land hat die gleichen Sünden begangen.
Welche Sünden meinen Sie?
Man war betriebsblind, was den Einfluss des politischen Islam auf Europa betrifft, was das Kopftuch, die Zwangsheirat, Parallelgesellschaften, Ehrenmorde und vieles mehr betrifft. Es wurden Kultur-Chauvinismus und kultureller Relativismus betrieben, weil man Angst hatte, als Rassist dazustehen. Jetzt steht Europa vor dem Problem, dass der politische Islam extremen Einfluss und die Bevölkerung Angst vor derartigen Radikalismen hat.
Es fehlt an Einwanderungsgesetzen und deren Exekution?
Exakt. Meiner Meinung nach haben Gastarbeiterländer wie Deutschland und Österreich, die ab den 1970er-Jahren Menschen aus der Türkei und anderswo aufgenommen haben, verabsäumt, strenge Einwanderungsgesetze und vorausschauende Integrationspolitik zu machen. Es geht auch darum, eigene Werte zu verteidigen.
Welche Werte meinen Sie?
Das beginnt bei der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Manche Länder denken darüber nach, ob es nicht eine neue Auslegung geben soll. Anstatt auf das Geschaffene und die Errungenschaften dieses identitätsstiftenden Friedensprojektes Europa zu schauen, auf die Französische Revolution, anstatt dem Erbe der Aufklärung zu folgen, will man plötzlich an der Aufklärung rütteln im Interesse von islamistischen Bewegungen. Die Strömung, die nach Europa kommt und die gegen unsere Werte und die Freiheit kämpft, kommt von radikalen Muslimen.
Das Tragen des Kopftuches ist für Sie ein Abbild dieser Strömung, wie Sie oft betonen.
In zwanzig Jahren wird man mir wieder recht geben. Setzen Sie sich doch an einen bestimmten Platz in Wien, wo viel Migrationshintergrund ist, und schauen Sie sich das Straßenbild an. Da gibt es vier- oder fünfjährige Mädchen mit Kopftüchern. Die gab es vor zwanzig Jahren nicht und auch nicht vor zehn. Wir müssen uns fragen: Was ist passiert in der Zwischenzeit, dass kleine Kinder Kopftuch tragen? An der Zunahme der Kopftücher kann man den Einfluss des politischen Islam festmachen.
Was ist für Sie noch ein solcher Indikator?
Man kann es festmachen an männlichen Schülern, die sich weigern, einer Lehrerin aus religiösen Gründen die Hand zu geben. An Mädchen, die nicht am Schwimmunterricht teilnehmen. Das bedeutet aber nicht, dass alle Muslime radikal sind. Diesen Satz muss man unbedingt und immer davor und danach sagen, weil die Debatte gerne in die Richtung gelenkt wird. Mit dem Schlagwort Islamophobie wird man gerne mundtot gemacht und erschlagen wie mit der Rassismuskeule. Wir haben es hier mit Auslandsfinanzierungen zu tun durch die Muslimbrüder, durch die Türkei, Katar und Saudi-Arabien.
Das heißt, Sie gehen davon aus, dass Menschen dafür bezahlt werden, das Kopftuch zu tragen?
Ich kann es noch nicht belegen. Aber wenn man in das Milieu hineingeht, dann erfährt man das. Reinigungsfrauen in Deutschland bekommen 100 Euro mehr, wenn sie Kopftuch tragen. Es gibt Beispiele, wo Frauen in der Türkei von AKP-Anhängern aufgesucht werden mit einer Tüte voller Kopftücher und sagen: "Wenn du in deinem Kosmetiksalon Kopftuch trägst und deine Kundinnen anhältst, Kopftuch zu tragen, dann bezahlen wir dich dafür." Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Studentinnen werden dafür bezahlt – auch vor Gericht zu ziehen, um das Recht auf Kopftuch einzuklagen. Noch können wir es nicht beweisen, aber irgendwann werden diese Frauen reden.
Kleinen Kindern wird man das religiös-politisch motivierte Tragen des Kopftuches nicht nachweisen oder gar untersagen können.
Nein, aber am Arbeitsplatz gibt es schon Verbote. Umgekehrt gibt es türkische Arbeitgeber, die nur Frauen mit Kopftuch einstellen. Religiöse Symbole am Arbeitsplatz zu untersagen ist möglich. Dazu gibt es Urteile des europäischen Gerichtshofes.
In der Diskussion wird oft ins Treffen geführt, dass auch das Tragen des Kreuzes ein religiöses Symbol ist.
Wäre ich Christin, würde ich eine Bewegung in Gang setzen und protestieren, dass das Kreuz gleichgesetzt wird mit dem Kopftuch. Das Kreuz ist das Symbol für eine gesamte Religionsgemeinschaft und hat nichts zu tun mit einer Sexualisierung zwischen den Geschlechtern. Das Kopftuch hat etwas zu tun mit dem Geschlechterverhältnis. Damit, dass Männer nicht verführt werden sollen von den Reizen der Frau. Es geht um Sitten- und Moralvorstellungen beim Kopftuch, um ein Frauenbild. Das haben wir auch bei der Eröffnung unserer Moschee erlebt.
Seit 2017 betreiben Sie eine liberale Moschee in Berlin-Moabit, die von Kritikern als "pervers" bezeichnet wird.
Bei uns dürfen Frauen mit und ohne Kopftuch mit Männern beten. Diese Männer müssen sich auch den Vorwurf gefallen lassen, sie seien keine richtigen Männer, weil sie sich von den Haaren der Frau nicht sexuell angezogen fühlen. Oder es kommt der Vorwurf, sie seien homosexuell. Homosexualität ist allerdings verboten, also gibt es auch keine homosexuellen Muslime nach der Vorstellung der radikalen Islamisten.
Sie brauchen 150.000 Euro an Spenden, um die Moschee weiterbetreiben zu können. Derzeit sind knapp 300 Euro eingegangen. Gibt es zu wenig liberale Muslime?
Jein. Wir mussten bei dem Spendenaufruf über die Crowdfunding-Plattform einen Zielbetrag angeben. Diesen haben wir sehr hoch angesetzt, um die Kampagne nicht dauernd anpassen zu müssen. Wir haben allerdings festgestellt, dass die meisten Leute nicht über diese Plattform spenden, sondern über Paypal oder Überweisung. Auf diese Weise haben uns deutlich mehr Spenden erreicht, wofür wir sehr dankbar sind. Derzeit ist die Gemeinde der Moschee nicht so groß, aber so eine Bewegung, wie wir sie in Gang gesetzt haben, fängt nie mit tausend Leuten an. Der Gegenwind und die Drohungen seitens der türkischen Diyanet (Amt für Religiöse Angelegenheiten, Anm.), die behauptet, wir seien eine Fetullah-Gülen-Organisation und damit Staatsfeinde der Türkei, macht vielen natürlich Angst. Aber es gibt auch einige Muslime, die immer schon davon geträumt haben, dass es eine liberale Moschee gibt.
Haben Sie einen Appell an die neue Regierung unter Angela Merkel?
Mein Appell ist nicht, dass die konservativen Verbände nicht an einen Tisch gehören, weil es ja vollkommen in Ordnung ist, dass Menschen orthodox und traditionell leben wollen. Wir haben das Problem, dass die Orthodoxen uns nicht wollen. Traumhaft wäre, dass der Pluralismus des Islam an jedem Tisch abgebildet ist, wo es um Integration geht. In Österreich sieht es so ähnlich aus: In der Öffentlichkeit sind auch nur die Orthodoxen und Konservativen vertreten. Die Liberalen trauen sich noch nicht, in Österreich öffentlich aufzutreten. Wir hoffen sehr, bald in Wien eine liberale Moschee eröffnen zu können.
Wann wollen Sie diese Dependance eröffnen?
Ich habe acht Jahre gebraucht, die Moschee in Berlin zu eröffnen – in Wien wird es nicht so lange dauern. Wir hoffen, dass wir noch in diesem Jahr eine Räumlichkeit finden.
Zur Person: Seyran Ateş
Liberale Imamin hat permanenten Personenschutz. Die gebürtige Türkin (*1963) wuchs in Berlin auf. Als Anwältin und Autorin (u. a. „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“) setzt sie sich für einen modernen Islam ein. Seit der Eröffnung ihrer liberalen Moschee in Berlin 2017 und nach 100 Morddrohungen hat die „Stop Extremism“-Mitinitiatorin permanenten Personenschutz. Zum Interview kam sie mit einem halben Dutzend Bodyguards.