Entgleisungen im Netz: Wo das Gegenüber fehlt, wird man provokanter
Von Julia Pfligl
Fehltritte auf Facebook oder Twitter sind „ein Phänomen, das häufig vorkommt“, sagt Tobias Dienlin, Medienpsychologe an der Universität Hohenheim. „Das liegt daran, dass viele soziale Medien von Menschen wie normale Alltagsunterhaltungen geführt werden – schnell, spontan, ohne viel Nachdenken.“
Die Hemmschwelle sei beim Tippen nicht höher als beim Reden – im Gegenteil: Je weiter man von einer natürlichen Gesprächssituation entfernt ist, desto eher wird man provokant. „Der Weg vom Gedanken zum geschriebenen Tweet ist kürzer als zum gesprochenen Wort. Besonders wenn man alleine – in der Nacht – vor dem PC sitzt und keinem ins Gesicht blickt.“
Grundsätzlich sei niemand vor verbalen Entgleisungen gefeit. Dennoch: Öffentlichkeitsprofis wie Politiker sollten derartige Impulse regulieren können, sagt Dienlin. Das sei nicht einfach, zumal spontane Postings ja nicht nur Shitstorms, sondern auch Tausende Likes bringen können. Dieser Kick steigere die Bereitschaft, unbedacht zu twittern. Da vergisst man rasch, dass Postings archiviert und vom ganzen Land gelesen werden können.
"Ermüdung" oder "Illusion"
Die zwischenmenschliche Kommunikation basiert auf zwei Systemen, erläutert Claus Lamm, Psychologe und Neurowissenschafter der Uni Wien: einem, das durch emotionale Bewertungen und Reflexe gesteuert wird, und einem, das rational und kontrolliert agiert. Warum im Fall Dönmez Ersteres „durchbrach“? „Möglicherweise Ermüdung, die das Kontrollsystem weniger effizient macht, oder die Illusion, hier mit einer Person face to face zu sprechen, bei der man sich einen ‚sexistischen Schenkelklopfer‘ erlauben kann“, mutmaßt der Hirnforscher.
Von einer Verrohung will Dienlin angesichts virtueller Ausrutscher nicht sprechen. „Wir bekommen jetzt einen besseren Einblick. Die dahinterliegenden Probleme gab es aber wohl schon immer.“ Für die Gesellschaft sei das auch eine Chance: „Man kann es nutzen, um für Themen wie Sexismus zu sensibilisieren.“