Politik

Glasflasche wurde zum Geschoß

Die Mutter kehrt mit ihrem Sohn vom Einkaufen zurück. Der Vierjährige hat Durst, aber er bekommt die (halb volle) Mineralwasserflasche nicht auf. Die Mutter sagt, er soll sie einstweilen am Vorzimmerschrank abstellen, bis sie die Hände frei hat und ihm beim Öffnen helfen kann. Das tut der Bub, mit Schwung, dabei stößt er mit der Flasche gegen das Kästchen, und sie zerbirst.

"Explosionsartig", sagt Vater Markus Scharwitzl aus Hohenems in Vorarlberg. "Die Scherben wurden mit unglaublich hoher Geschwindigkeit durch die Luft geschleudert und durchschlugen unserem Sohn das rechte Auge. Wie bei einem Schuss. Er hatte extreme Schmerzen, für uns Eltern war das ein furchtbarer Zustand."

Auf der Uniklinik Innsbruck konnte das Auge erhalten werden, aber der Bub kann damit nur hell und dunkel unterscheiden. Er ist jetzt auf einem Auge blind.

"Welche Probleme das noch mit sich bringen wird, wissen wir noch gar nicht", sagt Scharwitzl im Gespräch mit dem KURIER. Das Unglück geschah am 24. Juni 2009, der Sohn geht inzwischen in die zweite Klasse, beim Sport muss er Schutzbrillen tragen, damit dem gesunden Auge nichts geschieht.

Warnung

Darf so etwas passieren? Darf eine Mineralwasserflasche nicht nur zerbrechen, sondern gleich explodieren, weil das überschüssige stoßartig entweicht? Und muss der Produzent davor waren?

Diese Fragen beschäftigten die Familie Scharwitzl: "Otto Normalverbraucher weiß das ja gar nicht", sagt der Vater, Verkaufsleiter in einem Produktionsbetrieb: "Wir dachten, wenn da eine Gefährdung vorliegt, müssen wir der Sache nachgehen."

Das hätte der Vorarlberger schon vom Abfüller des Tafelwassers erwartet, überhaupt von allen Erzeugern von kohlesäurehältigen Getränken in Glasflaschen. Mithilfe seines Dornbirner Rechtsanwalts Henrik Gunz klagte Scharwitzl im Namen seines Sohnes den Betrieb, aus dem das Tafelwasser stammt, nach dem Produkthaftungsgesetz.

In zwei Instanzen blitzte er damit ab. An ein Aufgeben dachte der Vater nicht: "Das sind wir unserem Kind schuldig, dass es spürt, die Eltern haben alles gemacht. Jeder Schaden, den man künftig vermeiden kann, muss vermieden werden. Außerdem wollten wir eine Sensibilisierung herbeiführen."

Haftung

In einem "hervorragenden, in die Tiefe gehenden Urteil" (Scharwitzl) gab der Oberste Gerichtshof der Klage recht und verurteilte den Produzenten dem Grunde nach zur Zahlung von 90.000 Euro Schadenersatz und zur Haftung für Spätfolgen (siehe Zusatzbericht) .

Der Betrieb hätte Handlungsbedarf gehabt, meint der Vater des Buben: "Es trifft ihn eine Produktbeobachtungspflicht. Wenn eine Gefährdung vorliegt, muss er dafür Sorge tragen, dass nichts passiert."

Anderen Getränkeherstellern oder -abfüllern muss das Grundsatzurteil zu denken geben. Zumindest ein Warnhinweis sollte nun Standard sein.

Und der Bub aus Hohenems? "Er braucht mit nur einem Auge viel Konzentration", sagt sein Vater.

"Keine Warnhinweise auf die mögliche Gefahr"

Das Urteil des Obersten Gerichtshofes (OGH) ist sehr ausführlich und beginnt mit dem Satz: "Es passiert nahezu täglich, dass eine Wasserflasche mit kohlesäurehältigem Wasser zerbirst, wenn sie an einem harten Gegenstand angeschlagen wird. Dennoch wies bzw. weist das Etikett der Tafelwasserflasche weder damals noch heute irgendwelche Warnhinweise auf diese mögliche Gefahr auf."

Ohne diese Warnung muss der Verbraucher "auf Grund seiner berechtigten Sicherheitserwartung aber nicht damit rechnen, dass die Flasche nicht nur zerbricht, sondern explodiert und Glassplitter mit hoher Geschwindigkeit weggeschleudert werden", wenn er sie "unabsichtlich hart auf festem Boden abstellt oder fallen lässt". Es stellt auch kein "sozialunübliches Verhalten dar, wenn ein Verbraucher eine gefüllte Glasflasche umstößt".

Dass "offensichtlich auch andere Hersteller von Glasflaschen mit kohlesäurehältigem Inhalt keine Warnungen anbringen", lässt der OGH nicht als Ausrede gelten. "Auf Branchenüblichkeit kommt es nämlich nicht an, weil die in der jeweiligen Branche tatsächlich praktizierten Sicherheitsvorkehrungen durchaus hinter den rechtlich gebotenen Maßnahmen zurückbleiben können", führt das Höchstgericht aus.

Das "Missgeschick" des vierjährigen Buben beim (gescheiterten) Versuch, die Flasche auf dem Schrank abzustellen, entlastet den Hersteller auch nicht. Man kann das wegen seiner Unmündigkeit nicht als Sorglosigkeit werten.