Der Stich ins Herz der Autostadt sitzt tief
Von Evelyn Peternel
Wer in Wolfsburg keinen VW fährt, fällt auf. "Meine Nachbarn arbeiten bei Volkswagen, aber beide fahren Mercedes", sagt Sieghard Wilhelm. "Und jeder, der uns besucht, spricht uns kopfschüttelnd darauf an."
Wilhelm lacht, als er das erzählt. Danach ist ihm derzeit nicht oft zumute. Der 68-Jährige sitzt in einem Innenstadt-Cafe, er zupft an seinem Bart. Man merkt, dass der Abgasskandal auch ihm, dem Grünen-Politiker, im Nacken sitzt – er ist keiner von denen, die meinen, sie hätten es schon immer gewusst. Er hofft vielmehr, "dass das alles bald ein Ende hat."
In der Autostadt geht die Angst um, und sie ist berechtigt. Denn Wolfsburg hängt an seinem größten Arbeitgeber wie kaum eine andere Stadt. Wolfsburg, die reichste Stadt des Landes, lebt hauptsächlich von der Gewerbesteuer, die VW ihr einbringt. Bricht der Gewinn wegen des Milliarden-teuren Skandals ein, muss die Stadt möglicherweise Millionen an Steuern wieder zurückzahlen – die 250 Millionen, die die Kommune derzeit auf dem Sparbuch hat, werden da nicht reichen. Aus Vorsicht hat man gerade eine Haushaltssperre beschlossen und alle verschiebbaren Investitionen eingefroren.
Kaum einer will reden
Seit 77 Jahren arbeitet man hier am Ruf der Autostadt – mit Erfolg. Das Selbstbewusstsein merkt man Wolfsburg an jeder Ecke an. Ein Kunstmuseum, eine Uni, ein Wissenschaftsmuseum von Zaha-Hadid – und daneben die riesige Volkswagen-Arena – das alles in einer 125.000-Einwohner-Stadt, das ist ordentlich. Möglich gemacht hat vieles davon auch das Geld von VW – ein Erbe der Ära von Peter Hartz, dessen Name vielen außerhalb Wolfsburgs nur in Verbindung mit dem nach ihm benannten Arbeitslosengeld etwas sagt. Er schenkte der Stadt 1998 ein Investitionsprogramm, das nicht nur die Arbeitslosenrate von damals 17,8 auf heute knapp fünf Prozent drückte, sondern auch den Begriff "Wolfsburger Standard" zum geflügelten Wort machte. In Wolfsburg ist alles ein bisschen besser als im Rest des Landes – und es gibt immer ein wenig mehr. So kommen auf knapp 125.000 Einwohner in der Stadt mehr als 133.000 angemeldete Autos. Das passt.
Disneyland für VW-Fans
In der Eingangshalle, einem 26 Meter hohen Glaskubus, wird englisch, spanisch, auch italienisch gesprochen. Dutzende Leute warten hier, von Krise merkt man nichts – obwohl nebenan in den Werksbüros gerade eine Razzia läuft, wie Tobias Riepe, der Sprecher des Themenparks, schulterzuckend zur Kenntnis nimmt. "Das Thema ist natürlich auch bei den Führungen präsent, die Leute fragen danach, aber nicht in kritischer oder gar aggressiver Form", sagt er beim Rundgang durch das 28 Hektar große Gelände.
Ob der Skandal die Besucher oder Käufer abschrecke? Gar nicht, meint er. "Wir haben weder Absagen bei der Abholung noch Einbrüche bei den Besucherzahlen. Das ist alles sehr konstant." 2,2 Millionen Besucher kamen 2014 , und auch heuer rechnet man mit so einem Wert.
Ein Team, eine Familie
Eine Familie, das ist VW auch für Sieghard Wilhelm. "Schade finde ich ja, dass viele Junge wegziehen und nicht zu VW wollen. Meine Tochter auch", sagt er. Und irgendwie scheint das fast mehr zu wiegen als die Sorge wegen des Skandals.