Politik/Ausland

Der Stich ins Herz der Autostadt sitzt tief

Wer in Wolfsburg keinen VW fährt, fällt auf. "Meine Nachbarn arbeiten bei Volkswagen, aber beide fahren Mercedes", sagt Sieghard Wilhelm. "Und jeder, der uns besucht, spricht uns kopfschüttelnd darauf an."

Wilhelm lacht, als er das erzählt. Danach ist ihm derzeit nicht oft zumute. Der 68-Jährige sitzt in einem Innenstadt-Cafe, er zupft an seinem Bart. Man merkt, dass der Abgasskandal auch ihm, dem Grünen-Politiker, im Nacken sitzt – er ist keiner von denen, die meinen, sie hätten es schon immer gewusst. Er hofft vielmehr, "dass das alles bald ein Ende hat."

In der Autostadt geht die Angst um, und sie ist berechtigt. Denn Wolfsburg hängt an seinem größten Arbeitgeber wie kaum eine andere Stadt. Wolfsburg, die reichste Stadt des Landes, lebt hauptsächlich von der Gewerbesteuer, die VW ihr einbringt. Bricht der Gewinn wegen des Milliarden-teuren Skandals ein, muss die Stadt möglicherweise Millionen an Steuern wieder zurückzahlen – die 250 Millionen, die die Kommune derzeit auf dem Sparbuch hat, werden da nicht reichen. Aus Vorsicht hat man gerade eine Haushaltssperre beschlossen und alle verschiebbaren Investitionen eingefroren.

Kaum einer will reden

​"Wir sind oft gefragt worden, warum wir uns so abhängig machen" , sagt Wilhelm. Antwort darauf gibt es keine, zumindest keine sinnvolle. Im Rathaus und im Werk spricht man nach außen hin ungern über den Skandal "Hier leben ja alle irgendwie von VW", sagt der Grüne, und das stimmt auch für ihn selbst. Bis zur Rente war er beim Konzern, wie fast alle hier. 72.000 Menschen gibt das Werk Arbeit, die Zulieferbetriebe noch gar nicht mitgezählt. Die Stadt ohne VW? Das ist nicht nur undenkbar, es ist geradezu unmöglich. Ohne das Werk würde es sie ja gar nicht geben, die einstige "Stadt des ,Kraft-durch-Freude’-Wagens", 1938 von den Nationalsozialisten gegründet zur Produktion des Käfer-Vorläufers.

Seit 77 Jahren arbeitet man hier am Ruf der Autostadt – mit Erfolg. Das Selbstbewusstsein merkt man Wolfsburg an jeder Ecke an. Ein Kunstmuseum, eine Uni, ein Wissenschaftsmuseum von Zaha-Hadid – und daneben die riesige Volkswagen-Arena – das alles in einer 125.000-Einwohner-Stadt, das ist ordentlich. Möglich gemacht hat vieles davon auch das Geld von VW – ein Erbe der Ära von Peter Hartz, dessen Name vielen außerhalb Wolfsburgs nur in Verbindung mit dem nach ihm benannten Arbeitslosengeld etwas sagt. Er schenkte der Stadt 1998 ein Investitionsprogramm, das nicht nur die Arbeitslosenrate von damals 17,8 auf heute knapp fünf Prozent drückte, sondern auch den Begriff "Wolfsburger Standard" zum geflügelten Wort machte. In Wolfsburg ist alles ein bisschen besser als im Rest des Landes – und es gibt immer ein wenig mehr. So kommen auf knapp 125.000 Einwohner in der Stadt mehr als 133.000 angemeldete Autos. Das passt.

Disneyland für VW-Fans

Was auch zu diesem Bild passt, ist die "Autostadt", die VW vor 15 Jahren neben dem Werk gebaut hat. Der Themenpark, ein Showroom gigantischen Ausmaßes, ist Auto-Abholstation und Urlaubsort zugleich; mit acht Marken-Pavillons, einem Automuseum, einem noblen Ritz-Carlton und zehn Restaurants. Ein Disneyland für Autofreaks, Inspiration für die BMW-Welt oder die Ferrari-Themenparks. 430 Millionen nahm VW dafür in die Hand, gebaut wird laufend.

In der Eingangshalle, einem 26 Meter hohen Glaskubus, wird englisch, spanisch, auch italienisch gesprochen. Dutzende Leute warten hier, von Krise merkt man nichts – obwohl nebenan in den Werksbüros gerade eine Razzia läuft, wie Tobias Riepe, der Sprecher des Themenparks, schulterzuckend zur Kenntnis nimmt. "Das Thema ist natürlich auch bei den Führungen präsent, die Leute fragen danach, aber nicht in kritischer oder gar aggressiver Form", sagt er beim Rundgang durch das 28 Hektar große Gelände.

Ob der Skandal die Besucher oder Käufer abschrecke? Gar nicht, meint er. "Wir haben weder Absagen bei der Abholung noch Einbrüche bei den Besucherzahlen. Das ist alles sehr konstant." 2,2 Millionen Besucher kamen 2014 , und auch heuer rechnet man mit so einem Wert.

Ein Team, eine Familie

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Ob auch die echte Autostadt die Krise so unbeschadet überstehen wird? Die Mitarbeiter jedenfalls stehen zu ihrem Werk. "Das wird alles nicht so heiß gegessen", sagt einer an der Bar des Italieners in der Innenstadt, er nimmt einen Schluck Bier. Auch seine Kollegen meinen: "Man muss die Kirche im Dorf lassen." Auf Facebook sind sie einer Gruppe beigetreten, "Ich halte zu VW, egal was passiert", heißt sie. 26.000 Mitarbeiter sind dort schon dabei – sie eint das Motto "Ein Team. Eine Familie", wie auch auf werkseigenen T-Shirts steht, die viele anhaben.

Eine Familie, das ist VW auch für Sieghard Wilhelm. "Schade finde ich ja, dass viele Junge wegziehen und nicht zu VW wollen. Meine Tochter auch", sagt er. Und irgendwie scheint das fast mehr zu wiegen als die Sorge wegen des Skandals.