Politik/Ausland

"Wir sind wirklich müde"

Auf einem Dach in Sur, dem historischen Stadtzentrum von Diyarbakir, steht Ahmet, und beobachtet, wie Bagger sein Haus demolieren. Seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen. Staubwolken steigen auf, als eine Wand nachgibt und zusammenbricht. "Es ist das zweite Mal, dass ich denen dabei zuschaue, wie sie mein Haus abreißen", sagt der 33-Jährige.

Damals, in den 90er-Jahren, als der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der Kurden-Guerilla PKK seinen Höhepunkt erreicht hatte, brannten Soldaten sein Dorf nieder. Zusammen mit Tausenden Vertriebenen aus der Region zog seine Familie nach Sur. "Wir mussten alles zurücklassen. Ich hatte nicht einmal Schuhe, als wir hier ankamen." Er schaut an sich herab. "Wenigstens die habe ich diesmal retten können." Mehr jedoch nicht. Alles habe er zurücklassen müssen, als seine Familie im November 2015 auf Anweisung der Polizei aus dem Stadtteil floh. Nachdem im August in mehreren kurdischen Städten und Stadtvierteln die "Selbstverwaltung" ausgerufen worden war, unter anderem auch in Sur, verhängte die islamisch-konservative Regierung monatelange Ausgangssperren.

100 Tote bei Kämpfen

103 Tage dauerte die Militäroperation in Sur, während türkische Sicherheitskräfte mit Panzern und anderem schweren Geschütz gegen die militante PKK-Jugendorganisation YPS vorging, die sich hinter Barrikaden, in Gräben und mit Sprengfallen verschanzt hatte. In Sur wurden über 100 Menschen getötet.

Zahlreiche überwiegend kurdische Städte in der Region wurden bei den Kämpfen schwer beschädigt. Offiziellen Schätzungen zufolge verloren fast eine halbe Million Menschen ihr Zuhause.

Während Bombenattentate und Angriffe auf Polizei- und Militärstützpunkte in der gesamten Region anhalten, wurde die Militäroperation in Sur bereits im März für beendet erklärt. Die meisten Läden entlang der Hauptgeschäftsstraße sind wieder geöffnet, doch die Hälfte der Altstadt ist noch abgeriegelt. Mehrere Seitengassen sind durch Polizeigitter und Plastikplanen verhängt. Betonblöcke versperren die meisten Tore der antiken Stadtmauer. "Wir sind wirklich müde", sagt Ahmet leise. "Alles was wir wollen, ist Frieden."

Öcalan für neue Friedensgespräche

Abdullah Öcalan, der inhaftierte PKK-Anführer, plädiert ebenfalls für eine Beendigung des Konfliktes, der schon seit mehr als 30 Jahren anhält und über 40.000 Menschen das Leben kostete. Anlässlich des Opferfestes vergangenen Woche gewährte die Regierung Öcalan zum ersten Mal seit dem Frühjahr 2015 Familienbesuch. Öcalans Bruder Mehmet kehrte mit der Botschaft von der Gefängnisinsel Imrali (vor Istanbul) zurück, dass die PKK der Wiederaufnahme von Friedensgesprächen zustimme. "Wenn die Regierung dazu bereit ist, soll sie zwei Leute hierher schicken, und wir werden binnen sechs Monaten eine Lösung finden. Dieser Krieg ist keiner, den eine Seite gewinnen kann", ließ Öcalan seinen Bruder auf einer Pressekonferenz in Diyarbakir ausrichten.

Doch die Regierung zeigt keinen Verhandlungswillen. Premier Binali Yildirim ließ wiederholt verlauten, dass es keine "Lösung" geben würde. Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli haben sich die Fronten weiter verhärtet, was auch in Diyarbakir auf Unverständnis stößt. "Dieses Mal wurde der Putsch niedergeschlagen, und darüber waren wir sehr froh. Trotzdem fühlt es sich an, als wäre eine Junta an der Macht", so ein Händler in Sur.

Ausnahmezustand

Mittlerweile hat die Regierung die großen "Säuberungsaktionen" gegen angebliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den Ankara für den Putschversuch verantwortlich macht, auf die Kurden ausgeweitet. Die Gülenisten und die PKK, das sei ein und dasselbe, lautet die Begründung von Präsident Erdogan. "Das ist absurd", sagt ein kurdischer Journalist. "Gülen hasst die Kurden und hat sich gegen den Friedensprozess mit der PKK ausgesprochen."

Die AKP-Regierung nutzt den Spielraum, den ihr der am 21. Juli verhängte Ausnahmezustand zugesteht. Wenige Tage vor Beginn des neuen Schuljahres im September suspendierte das Bildungsministerium rund 11.000 Lehrer unter dem Vorwurf, angebliche Unterstützer der PKK zu sein, mehr als 4.000 von ihnen arbeiteten in Diyarbakir. Anfang September setzten Behörden per Notstandsdekret Zwangsverwalter für 24 kurdische Stadtverwaltungen ein, unter anderem in Sur. Ankara wirft auch den Bürgermeistern vor, Verbindungen zur PKK zu unterhalten.

"Rechte statt Almosen"

Idris Baluken, Abgeordneter der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), nennt die Maßnahme "gefährlich": "Das werden viele in der Region nicht akzeptieren. Warum gibt es überhaupt noch Wahlen, wenn ein Politiker, der mit über 70 oder sogar 80 Prozent der Stimmen ins Amt gewählt wurde, einfach von der Regierung abgesetzt werden kann?"

Anfang September kündigte Yildirim bei einem Besuch in Diyarbakir ein Förderpaket von drei Milliarden Euro für den Wiederaufbau und zur Förderung der Region an. Doch Ahmet winkt ab. "Wir sind keine Bittsteller. Es ist falsch, die Kurdenfrage als ein Geldproblem zu behandeln. Wir wollen ihre Almosen nicht, sondern einfach nur unsere Rechte." Er gestikuliert in Richtung der Ruinen, der Bagger: "Ich will keine schicke, moderne Neubauwohnung. Ich bin arm, das stimmt. Aber Sur war mein Zuhause. Sur, das ist doch das Herz von Diyarbakir. Wenn uns das genommen wird, was bleibt dann?"