"Wir haben zu viel Blut vergossen"
Von Stefan Schocher
Nichts rührt sich in dem Vorort von Sirte. Der Wind pfeift. Hinter einer alten Hühnerfarm kauern einige Kämpfer, rauchen, lugen um die Ecke. Ihre Fahrzeuge haben sie hinter das Gebäude gestellt. Weiter geht es vorerst nicht. In der Häuserreihe vor ihnen sind Gaddafis Leute verschanzt, haben eine strategisch wichtige Straßenbrücke ins Visier genommen.
Ein ruhiger Tag an der Front. Nur ein Öllager brennt hinter den Linien. Die Ruhe vor dem Sturm auf die Geburtsstadt eines gestrauchelten Diktators. Die Ruhe vor einem neuerlichen Versuch, Sirte einzunehmen. Die Kämpfer des Nationalen Übergangsrates, die einstigen Rebellen, haben sich dazu gesammelt - und brühen derweil Tee auf offenem Feuer. Sie sind sich ihres Sieges sicher. "Es ist nur eine Frage der Zeit", sagt ein Bursche mit Kalaschnikow.
Leichengeruch
Es ist vor allem aber auch ein Tag relativer Ruhe, um den Zivilisten aus Sirte die Möglichkeit zu geben, aus der Stadt zu kommen. Aus der Schusslinie. Immer wieder rollen Kolonnen von bis oben bepackten Autos weg von der Front in Richtung Misrata - jene Stadt, die Gaddafis Truppen einst fünf Monate lang belagert hatten. Und in der immer noch Pulver- und Leichengeruch hängt. Unter die Flüchtenden mischen sich offenbar auch Granden des gefallenen Regimes. Mussa Ibrahim, der Sprecher Gaddafis, wurde am Dienstag an einem Checkpoint nahe Sirte gefasst. Grinsend sagt ein Kämpfer: "Jetzt ist er in sicheren Händen."
Dass sich noch immer mächtige Leute in Sirte aufhalten, daran haben die Rebellen in ihren Stellungen vor der Stadt keinen Zweifel. Zu verbissen ist der Widerstand. Sirte ist die eine der zwei letzten Bastionen des Diktators, neben der Wüstenstadt Bani Walid. Der Plan lautet: Sirte nehmen und danach den verbliebenen Rest Gaddafi-treuer Kämpfer in Bani Walid angreifen. Aber zu viele Zivilisten sind noch in Sirte, zu viele Waffen, zu viele Kämpfer, die Gaddafi die Stange halten. Von Söldnern, die er gegen sie in den Krieg schicke, sprechen die, die Gaddafi hassen. Und letztlich ist es eben nur eine Frage der Zeit. Der Sieg ist längst Realität.
"Gott ist groß"
Der Schlachtruf "Gott ist groß", das Victory-Zeichen und ein breites Lächeln sind die Markenzeichen des neuen Libyen. Gaddafi ist bestenfalls noch in Form von gesprayten Karikaturen an Hauswänden präsent. Doch noch ist der Krieg nicht vorbei, der die Menschen verändert hat: Aus Burschen, denen davor vor allem Mutters Küche am nächsten war, sind Soldaten geworden, die in Flipflops in die Schlacht ziehen, die mit Granatwerfern in den Grundzügen umzugehen gelernt haben und die eine AK-47 grinsend ihre Frau nennen. Mit der sie liebend gerne in die Luft schießen - und dabei bisweilen Mauervorsprünge zerballern. Jetzt sind sie diejenigen, die belagern, anstatt von einem verhassten Diktator belagert zu werden.
"Und wenn es sein muss", so sagt einer, "werden wir Sirte fünf Monate belagern." So wie Misrata. "Wir haben noch zwei große Schlachten vor uns", sagt Mohamed, der zwei Frauen hat: eine Kalaschnikow und ein belgisches Sturmgewehr. "Die Schlacht gegen Gaddafis Leute und dann noch die, um all die Waffen einzusammeln."
AK-47 statt EKG
Mohamed hat Medizin studiert. Er ist ein stiller junger Mann, der zu viel denkt, wie er sagt. Seine Freunde nennen ihn scherzhaft "den General". Seit sechs Monaten ist er auf Wanderschaft zwischen den verschiedensten Kriegsschauplätzen im Westen und im Zentrum Libyens. Er wisse nicht mehr, ob er Arzt sei oder Soldat. Vermisse sein ziviles Leben. Auch wenn er keine Ahnung hat, was er nach dem Krieg machen wird. Und, so gibt er zu, er werde seine "Frauen" vermissen. Zugleich weiß er: "Wir haben zu viel Blut vergossen."
Nach sechs Monaten Bürgerkrieg sind 50.000 Menschen tot oder werden vermisst, erzählt ein Sanitäter in einem Feldlazarett bei Sirte. Darüber, wie viele Menschen verwundet wurden, lassen sich nicht einmal Schätzungen anstellen.
In der Häuserreihe hinter der Hühnerfarm hat alles angefangen - mit der Geburt Gaddafis. Der Anfang vom endgültigen Ende seiner Herrschaft liegt jetzt außerhalb der Reichweite seiner Artillerie. Dort steht ein unfertiges Gaskraftwerk. Eine verlassene Baustelle samt Container-Camp für Arbeiter, das die Rebellen jetzt als Basis nutzen. Verlassene Häuser rundum haben sie ebenfalls in Beschlag genommen, sie kommen aus allen Landesteilen.
"Siegen oder sterben"
Sie haben schwere Luftabwehrkanonen auf ihre Pick-ups gepackt. Kanonenrohre auf der Ladefläche. Sie haben Gewehre, schaffen Lkw-weise Munition und Verpflegung heran. Sie haben sich Tausende Kilometer durch die Wüste gekämpft, und sie haben den großen Sieg vor Augen. Die ganze Nacht donnern Maschinengewehre. Freudenfeuer und zugleich Testschüsse für den Endkampf um Sirte.
"Es gibt kein Zurück", sagt Mohamed, "wir werden siegen oder sterben."