Warten vor verschlossenen Toren
Von Stefan Schocher
Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Von der Decke tropft Wasser. Durch die nackten Fensterlöcher in dem Rohbau am Rande des Zentrums von Bihac weht eine frische Morgenbrise. Plastikmüll, eine Schlange vor einem Klocontainer. Es wird ein heißer Tag werden. Und in den Betonhöhlen des Baus, der irgendwann einmal ein Sanatorium hätte werden sollen, wickeln sich Menschen aus Schlafsäcken und Decken. Bihac, das ist das Zentrum des Flüchtlingsdramas, das sich derzeit am Balkan abspielt. Über Serbien ist es kaum mehr möglich nach Ungarn und damit in die EU zu kommen, Bosnien ist der Ausweg mit seiner langen Grenze zu Kroatien. Hier in der Grenzstadt Bihac zwischen sanften grünen jedoch aus Kriegszeiten nach wie vor verminten Bergen sind sie gestrandet. Und sie werden immer mehr – zumindest hier.
Transitland Serbien
Vor allem aus Serbien zieht es derzeit Menschen nach Bosnien – überwiegend Menschen aus Pakistan, dem Irak, dem Iran, der Türkei, Afghanistan oder auch Indien, die seit Jahren in Serbien gestrandet waren und jetzt eine neue Chance sehen. Aber auch einige Menschen sind darunter, die es in den vergangenen Monaten von Griechenland über Mazedonien oder auch Bulgarien nach Bosnien geschafft haben. Albanien? „Nein, viel zu bergig“, so eine Antwort, die immer wieder kommt. Viel eher ist es immer öfter auch der Fall, dass Menschen ganz legal mit einem Touristenvisum nach Bosnien oder Serbien einfliegen, um dann zu Fuß weiter zu reisen.
Said reibt sich die Augen und raucht sich eine Zigarette an während ein kleines Mädchen kichernd in seinen Haaren wühlt. „Diese Kinder hier“, so sagt er und zeigt durch den Raum in dem Zelte aufgestellt sind„werden eines Tages einmal die Welt lenken.“ Er nimmt einen Schluck Tee und fügt hinzu nach einer Pause: „Und was ihnen in Erinnerung bleiben wird ist, dass die kroatische Polizei auf sie geschossen hat.“ Er sitzt auf einer Matraze, trinkt, beißt in einen Keks. In Moskau hatte der Iraner Luftfahrtingeneurswesen studiert.Dann gab es daheim Probleme, damit kein Geld mehr und er ist losgezogen. Das war vor einem Jahr. Zwei Mal hat er bereits probiert, über die Grenze zu kommen – und beide Male wurde er postwendend zurückgeschickt.
An dieser Grenze zu scheitern, das ist nächtlicher Alltag. Und es ist immer die selbe Geschichte in Abstufungen. Nicht von den kroatischen Zöllnern geschlagen und nur sein Mobiltelefon ruiniert zu bekommen, beraubt und wieder zurück nach Bosnien geschickt zu werden, ist da noch die sanfteste Variante. Manche werden bei diesen versuchen schwer verwundet. Zuletzt wurde ein junges Mädchen von zwölf Jahren von kroatischen Grenzern angeschossen und schwer verletzt. Andere berichten von Prügelorgien. Ein Ansuchen um Asyl an der Grenze wie es internationales Recht vorsieht? Keine Chance. „Und ich dachte, in Europa glauben die Menschen an Menschlichkeit“, sagt Said.
Ein junger Helfer des Roten Kreuzes in Bihac kennt alle dieser Geschichten und nennt die kroatischen Zöllner in einem spontanen Anflug von Wut für den er sich gleich wieder entschuldigt „verfickte Hurensöhne“. Er sagt das mit einem wütenden zittern um die Mundwinkel. Es ist ihm ernst. Auf die EU im allgemeinen ist der hagere junge Mann keinesfalls gut zu sprechen. Hilfe aus Brüsssel? Gibt es nicht. Hilfe aus der Hauptstadt Sarajevo? Sarajevo hat sich erst vor zwei Wochen in die Angelegenheiten in Bihac eingeschalten. Und die Mittel reichen nicht.
Über private Spenden und unter Mithilfe der International Organisation for Migration (IOM) sowie zahlreicher Freiwilliger können gerade einmal eine warme Mahlzeit pro Tag sowie Decken, Schlafsäcke, die allernötigsten Sanitäreinrichtungen und eine notdürftige Gesundheitsversorgung bereitgestellt werden. Letzteres in Kooperation mit dem Krankenhaus der Stadt, das bemüht ist,m, die Ausbreitungen ansteckender Krankheiten zu verhindern. Die Kretze geht bei Kindern schon um. Eine Order aus Sarajevo? Fehlanzeige. Alles geschieht aus eigener lokaler Initiative. Nur deren Möglichkeiten sind bei Weitem ausgeschöpft.
Zahlen steigen
Bihac ist eine Kleinstadt, die 20.000 Seelen zählt. Um die 900 Migranten sind derzeit da – mit ganz eindeutiger Tendenz: steigend. Und während die Lage in dem Sanatorium noch einigermaßen unter Kontrolle ist, so ist diese Einrichtung bei weitem nicht die Einzige. In der Stadt Velika Kladusa wenige Kilometer nördlich von Bihac gibt es keinerlei Hilfe oder behördliche Kontrolle. Und auch nicht in einem verfallenden Rohbau am Rande des Zentrums von Bihac. Auch dort haben sich Menschen einquartiert. Um die 30 sind es.
Es sind Menschen aus dem Irak, dem Iran, aus Indien, Pakistan, Afghanistan, Nepal, Sri Lanka, nordafrikanischen Staaten oder auch Russland die in Bihac gestrandet sind. Da ist etwa Ahmed, der für die britischen Truppen in Afghanistan übersetzt hat, deswegen Drohungen seitens der Taliban erhielt und seine Familie außer Landes gebracht hat – nach Pakistan. Er selbst zog los, um die Lage zu sondieren. Drei Jahre ist das her. Zwei Jahre hat er in Serbien verbracht. Jetzt ist er in Bihac. Sein jüngster Sohn ist heute vier. Und während er das erzählt schießen ihm die Tränen in die Augen. Wie oft er schon des nächtens losgerannt ist – erst in Richtung Ungarn, jetzt in Richtung Kroatien – kann er kaum mehr zählen. Ebensowenig die Blessuren und Narben, die er dabei davongetragen hat – nebst jenen aus seiner Zeit als Übersetzer für die britische Kampftruppen in Afghanistan. Und Ahmed sagt mit seinen 35 Jahren nach einer Pause in der er sich das Gesicht reibt: „Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin – ich kann nicht mehr.“
Worum es im Leben denn eigentlich geht, fragt sich Said. Und er fragt sich, was die Menschen dazu getrieben hat, einander zu hassen: „Das Leben ist schön, zumindest sollte es das sein.“ Das wäre doch an sich der einzig schlüssige Sinn des ganzen Seins. Er lässt den Blick über die Zelte schweifen, langsam dringt die Hitze in den Bau vor: „Regierungen haben diese Welt in eine Hölle verwandelt – Regierungen, nicht die Menschen.“ Wieder eine Pause: „Anscheinend brauchen Menschen immer einen Feind.“