Politik/Ausland

Von Monsieur Mitterrand zu Madame Le Pen

Wie konnte es soweit kommen? Wie konnte eine Partei, die gegen so gut wie alle von der Revolution 1789 geerbten Werte der Republik verstößt, zur stärksten Kraft Frankreichs werden? Haben doch zahlreiche Institutionen und Persönlichkeiten – vom Unternehmerverband über Menschenrechtsgruppen, Künstler und Kirchenvertreter – sämtliche Schreckensszenarien einer etwaigen Verwirklichung der Le-Pen-Ideen an die Wand gemalt!

Politologen, Meinungsforscher und Kommentatoren haben mit einer bisher ungekannten Gewissenserforschung begonnen. In Katerstimmung wird jetzt eingestanden, dass die moralische Verteufelung allein dem Front National nicht das Wasser abgraben konnte.

Faschistische Wurzel

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Das galt schon vor 30 Jahren. Gegründet wurde der FN 1972 auf Initiative der berüchtigten faschistischen Organisation "Ordre nouveau". Das Ziel der ultrarechten Nostalgiker: Verteidigung der französischen Identität und Nation, Kampf der sozialistisch-kommunistischen Bedrohung sowie der Überfremdung durch Einwanderung. Chef der Partei wurde Jean-Marie Le Pen, ehemals Offizier der Fremdenlegion. Nach zwölf Jahren Aufbauarbeit gelang ihm der erste Durchbruch: 1984 wurde er mit 11 Prozent der Stimmen ins Europaparlament gewählt.

Das war die eigentliche politische Geburtsstunde des Front National. Damals war der Sozialist François Mitterrand seit drei Jahren an der Macht. Er hatte 1981 zwei Jahrzehnten konservativer Herrschaft ein Ende gesetzt. Ein Grund für den Sieg war eine Krise der Wirtschaft und der Niedergang ganzer Industriezweige wie der Eisen- und Stahlproduktion. Mitterrand reagierte mit Verstaatlichungen, Ausbau des öffentlichen Dienstes und großzügigen Sozialmaßnahmen. Aber anstatt zum Aufschwung kam es zur Vertiefung der Krise, viele Maßnahmen mussten zurückgenommen werden.

Konservative spalten

Mitterrand versuchte zumindest gesellschaftspolitisch weitere Versprechungen seines 110-Punkte-Wahlprogramms umzusetzen wie die Abschaffung der Todesstrafe und eine Reform des Wahlrechts. Also wurde anstatt des kleine Parteien benachteiligenden Mehrheits- das Verhältniswahlrecht eingeführt. Offiziell um eine demokratischere Zusammensetzung des Parlaments zu erlauben. Viele Kritiker meinen, Mitterrand habe damit bewusst den Einzug des Front National in die "Assemblée" betrieben, um die Konservativen zu spalten und den eigenen Machterhalt zu erleichtern.

Tatsache ist, dass unter Mitterrand die landesweite Protestbewegung gegen den FN entstand. Organisationen wie SOS-Racisme veranstalteten Märsche, Konzerte, Feste und Schulungen – mit tatkräftiger Unterstützung von Kulturminister Jack Lang. Die meisten Medien, Parteien und Institutionen folgten einem ungeschriebenen Gesetz: um die Rechtsextremen wird ein "cordon sanitaire" gezogen – ein Schutzwall wie seinerzeit zur Bekämpfung von Seuchen.

Ausgrenzung

Diese Politik wurde auch unter Jacques Chirac weiter verfolgt. Als Ziehsohn von Charles de Gaulles sah sich Chirac verpflichtet, Le Pen den Weg zu versperren. Aber die Politik der Ausgrenzung konnte den Aufstieg des Front National ebenso wenig verhindern wie Nicolas Sarkozy. Er hatte es mit einer demonstrativ rechten Politik der "eisernen Faust" bei Kriminalität, Sicherheit und Einwanderung versucht, dadurch aber den Lepenisten auch Legitimität verschafft.

2011 löste die jüngste Tochter Le Pens den durch antisemitische und antidemokratische Provokationen gemäßigte Wähler abschreckenden Parteigründer ab. Marine Le Pen korrigierte nicht nur Auftreten, Sprache und Erscheinung der Partei. Sie führte neue Themen ein. Sie reagierte auf die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der rasanten Globalisierung, der Finanz-, Wirtschafts- und Migrationskrise gewandelte Welt. Frankreich abschotten, Franzosen zuerst, raus aus der EU, die eigene Tradition hochhalten, die Nation an die erste Stelle reihen! Damit seien die Franzosen geschützt – vor Finanzspekulanten, Brüsseler Bürokraten und vor der islamischen Expansion, so Marine Le Pen.

Terror, Migration, Arbeitslosigkeit

Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass die Angst nach den blutigen Terroranschlägen von Paris den Erfolg Le Pens begünstigt hat. Aber sie hatte auch schon bei den letzten EU-Wahlen die meisten Stimmen erhalten. Und eine Motiv-Forschung nach der letzten Wahl überraschte: 44% der Befragten gaben als Hauptgrund für ihre Stimme die große Arbeitslosigkeit an; zwischen 30 und 32% nannten Terrorgefahr, Islamismus und Migration.

Der vorherrschende Ton bei der Gewissenserforschung lautet: traditionelle Parteien und Politiker haben den Kontakt zum Volk verloren, die Wähler jedes Vertrauen in sie, und während die Eliten die Fortschritte der Globalisierung begrüßen, leiden Millionen sozial Benachteiligter darunter. Sie reagieren mit Frustration und Zukunftsangst. Gegen den Front National helfe nur eines: die Politik dürfe nicht mehr allein auf Wettbewerbs- und Börsendaten starren, sondern müsse echte Lösungen erarbeiten, sich neu erfinden, um von den Wählern wieder gehört zu werden.