Politik/Ausland

Irak: USA und Iran überlegen Militäraktion

Der Irak-Konflikt weitet sich international aus: Die USA schließen eine militärische Reaktion im Irak nicht mehr aus, um den Vormarsch der Terrorgruppe ISIL zu stoppen. Irans Präsident Hassan Rohani sicherte dem Nachbarland die uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen ISIL zu. Die radikal-islamische Kämpfer rückten unterdessen am Freitag bereits nahe an die Hauptstadt Bagdad heran.

Die radikal-islamische Gruppe "Islamischer Staat im Irak und in der Levante" (ISIL/ISIS) versuchen, die Hauptstadt Bagdad bereits aus mehreren Richtungen einzukreisen. Laut Augenzeugen zogen die ISIL-Kämpfer am Freitag zwischen Tikrit und Samarra nahe der Ortschaft Dur, "zahllose" Fahrzeuge zusammen. Bewaffnete seien im Norden, Osten und Südosten von Samarra, 110 Kilometer nördlich von Bagdad, aufmarschiert.

UNO befürchtet viele Todesopfer

Bei den Kämpfen im Irak sind nach UN-Einschätzung in den vergangenen Tagen mehrere hundert Zivilisten ums Leben gekommen. UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay berichtete von willkürlichen Hinrichtungen. "Das volle Ausmaß der zivilen Opfer ist bisher nicht genau überschaubar", sagte sie am Freitag in Genf. Die Zahl der verletzten Menschen dürfte bei etwa 1.000 liegen.

Die Kämpfer der ISIL hätten zusammen mit befreiten Gefangenen Zivilisten erschossen. Nach ihren Informationen seien allein in einer Straße der Stadt Mossul 17 Zivilangehörige der Polizei getötet worden. "Ich bin besonders besorgt über die gefährliche Lage von Minderheiten, Frauen und Kindern", sagte Pillay.

Verteidigungsplan

Die irakische Regierung kündigte inzwischen einen Verteidigungsplan für die Hauptstadt an. In Bagdad bereiten sich Sicherheitskräfte und Bürger auf mögliche Angriffe der Jihadisten-Miliz vor. Augenzeugen berichteten am Freitag über massive Sicherheitsmaßnahmen. Polizei und Soldaten patrouillierten durch wichtige Straßen, neue Kontrollposten wurden aufgebaut.

In den Geschäften standen den Angaben nach die Menschen Schlange, um sich auf Vorrat mit Lebensmitteln und Medikamenten auszustatten. Zahlreiche Freiwillige meldeten sich zudem bei den Behörden, um sich bewaffnen zu lassen und Bagdad im Notfall gegen die radikal-islamische Terrorgruppe Islamischer Staat in Irak und in der Levante (ISIL/ISIS) zu verteidigen.

Ayatollah ruft zu den Waffen

Einer der einflussreichsten schiitischen Geistlichen, Ayatollah Ali al-Sistani, rief die irakische Bevölkerung dazu auf, zu den Waffen zu greifen und ihr Land vor den Aufständischen zu verteidigen.

Im Ostirak bereiteten sich kurdische Truppen nach dem Vormarsch der Islamisten am Freitag auf eine Gegenoffensive vor. Wie das Nachrichtenportal Sumaria News unter Berufung auf kurdische Sicherheitskräfte berichtete, traf ein Regiment der Peschmerga-Truppen am Vormittag ein. Die kurdischen Soldaten wollten im Großraum der Stadt Jalula (Jalawla) das Machtvakuum füllen, das die irakischen Truppen nach ihrem Rückzug aus der Region hinterlassen hätten, hieß es.

Zuvor hatte ISIL laut arabischen Medienberichten die Stadt Jalula sowie die Ortschaft Saadiya in der Provinz Diyala übernommen. Dort leben neben Arabern auch viele Kurden und Turkmenen. Jalula liegt rund 125 Kilometer nordöstlich von Bagdad und ist nur etwa 35 Kilometer Luftlinie von der iranischen Grenze entfernt.

Die im Syrienkrieg stark gewordene Miliz ISIL hat zu Beginn der Woche die nördliche Millionenstadt Mossul eingenommen und ist seitdem auf dem Vormarsch in Richtung Bagdad. Schon im Jänner hatten die Jihadisten die Kontrolle in der westlichen Stadt Falluja übernommen. In der Provinz Anbar lieferten sich irakische Regierungstruppen örtlichen Medien zufolge auch am Freitag wieder Kämpfe mit den Extremisten.

Obama schließt keine Option aus

US-Präsident Barack Obama sagte im Weißen Haus, der Irak brauche zusätzliche Hilfe von den USA und er schließe bei Überlegungen über eine Reaktion keine Option aus. Er wolle sicherstellen, dass die Extremisten gestoppt werden könnten. Zuvor hatte es geheißen, die USA wollten sich nicht an Luftangriffen auf die Aufständischen beteiligen. Obama forderte die irakische Führung auf, an einer politischen Lösung zu arbeiten. "Dies sollte ein Weckruf für die irakische Regierung sein", sagte er.

Der Iran schickte nach einem US-Medienbericht Revolutionsgarden in den benachbarten Irak, um die ISIL-Kämpfer zurückzudrängen. Mindestens drei Bataillone der Al-Quds-Brigaden (Al-Kuds), die Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden, seien zur Unterstützung geschickt worden, berichtete das "Wall Street Journal" unter Berufung auf iranische Sicherheitskreise.

Kooperation zwischen Iran und USA?

Rohani sagte dem irakischen Regierungschef Nuri al-Maliki in einem Telefonat, der Iran werde sowohl auf regionaler als auch internationaler Ebene alles im Kampf gegen die Terroristen im Irak unternehmen. Laut einem Insider prüft die schiitische Führung in Teheran sogar eine Zusammenarbeit mit den USA. "Wir können gemeinsam mit den Amerikanern den Aufstand im Nahen Osten beenden", sagte ein hochrangiger iranischer Vertreter der Nachrichtenagentur Reuters unter Hinweis auf die Kämpfe im Nachbarland. "Wir haben großen Einfluss im Irak, in Syrien und in anderen Staaten." Eine Kooperation werde innerhalb der iranischen Führung diskutiert.

Die Nachrichtenagentur Fars berichtete, Zarif habe bereits Kontakt mit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit und seinen Amtskollegen in der Türkei, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgenommen. Zarif habe gemeinsame Maßnahmen gegen die Terrorgruppe ISIL gefordert. Eine Bestätigung, dass der Iran zur Unterstützung auch Truppen in den Irak entsandt habe, gab es zunächst jedoch nicht.

Die türkische Regierung wies Vorwürfe zurück, die Türkei habe die Terrorgruppe ISIL unterstützt. Es habe keinerlei Hilfe von der Türkei gegeben, sagte Vizeregierungschef Bülent Arinc am Freitag bei einer Pressekonferenz in Ankara. Arinc reagierte auf Kritik von Experten, die Türkei habe Jihadisten ungestört über ihre Grenzen in die Nachbarländer ein und -ausreisen lassen.

500.000 Flüchtlinge

ISIL-Kämpfer waren am Donnerstag bis auf 60 Kilometer an Bagdad herangerückt, bevor ihr Vormarsch gestoppt werden konnte. Nach Angaben der Organisation Ärzte ohne Grenzen sind rund eine Million Iraker auf der Flucht. Viele versuchten das als stabil geltende kurdische Autonomiegebiet im Nordirak zu erreichen. Allein in Mossul waren binnen weniger Stunden 500.000 Menschen vor den Extremisten geflohen.

Mit über 85 Prozent der Muslime weltweit bilden die Sunniten die größte Gruppe im Islam. Der Name der Glaubensrichtung leitet sich vom arabischen Wort "Sunna" ab, das im religiösen Zusammenhang die "Handlungsweisen des Propheten Mohammed" bedeutet. Zusätzlich zum Koran orientieren sich Sunniten anders als die Schiiten an der Sunna als zweite Quelle des islamischen Rechts. Die Rebellen im Irak gehören der Glaubensrichtung der Sunniten an.

In den Augen der Schiiten haben nur Ali, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, und dessen Nachkommen ein Anrecht auf die politische Führung aller Muslime. Zwar unterscheiden sich die Schiiten in der religiösen Praxis kaum von den Sunniten. Doch durch die historische Entwicklung beider Glaubensrichtungen ziehen sich heute tiefe politische Gräben durch das sunnitische und das schiitische Lager. Im Irak sowie in Iran und dem Libanon stellen die Schiiten die größte Konfessionsgruppe. Auch der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki ist Schiit.

Mehr Macht für den Premierminister, Notstandsgesetze? Undenkbar! Auch der Vormarsch der Terror-Miliz ISIL in Richtung Bagdad konnte das dortige Parlament am Donnerstag nicht zu einer gemeinsamen Entscheidung bringen. Zu zerstritten sind die dort vertretenen Bevölkerungs- und Religionsgruppen. Die Sunniten (rund 35 Prozent der Bevölkerung, gegenüber rund 60 Prozent Schiiten, Anm.) weigerten sich kategorisch, dem schiitischen Regierungschef Maliki das Oberkommando über die Armee anzuvertrauen. Das Misstrauen gegenüber dem zunehmend autoritären Maliki sitzt tief.

Die aktuelle Krise, in der die sunnitische ISIL Stadt für Stadt im Irak einnimmt, wird zur Existenzbedrohung für das Land. Das nach dem Sturz Saddam Husseins unter der US-Besatzung mühselig und über Jahre konstruierte staatliche Gebilde steht erneut vor dem Zerfall.

Maliki hat über Jahre seine Macht und damit die der schiitischen Politiker ausgebaut und die Vertreter der Sunniten immer weiter ins politische Aus bugsiert. Er steht inzwischen mehr für die Spaltung des Landes als für dessen Zusammenhalt.

In vielen sunnitischen Regionen liefern sich die Bewohner lieber der ISIL aus, als für die verhasste Regierung in Bagdad zu kämpfen. In den ohnehin autonomen Kurdenprovinzen im Norden des Landes übernehmen kurdische Sicherheitskräfte den Kampf gegen die sunnitische Miliz, die auch hier vordringen. In der erdölreichen Stadt Kirkuk etwa räumte die irakische Armee am Donnerstag sämtliche Posten. Die Stadt steht damit unter alleiniger militärischer Kontrolle der Kurden. Tausende Zivilisten, die vor der vorrückenden Miliz fliehen, suchen Schutz bei kurdischen Sicherheitskräften.

Bei ihrer Offensive im Irak haben die Aufständischen am Donnerstagabend auch zwei Bezirke in der Provinz Diyala nordöstlich von Bagdad unter ihre Kontrolle gebracht. Zuvor hätten sich die Sicherheitskräfte aus Jalawla und Saadiya zurückgezogen und ihre Posten verlassen, wie Regierungsverteter sagten. Die bewaffneten Aufständischen stünden damit unweit der Provinzhauptstadt Bakuba.

Premier Maliki selbst hat das Land noch einen Schritt weiter in den Bürgerkrieg geführt. Er rief die Schiiten auf, ihre Milizen zu mobilisieren. Die Armee scheint nicht mehr in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.

Konflikt strahlt aus

Ratlos ist man auch in Washington. Die im Irak verbliebenen US-Militärs sind derzeit nicht in der Lage, einen entscheidenden Gegenstoß der irakischen Armee gegen die ISIL zu organisieren. Erneut militärisch im Irak einzugreifen, davor schreckt die Obama-Regierung nach den blutigen Jahren der US-Besatzung zurück. Die schon vor Wochen von Maliki geäußerte Bitte, den Vorstoß der Islamisten mit Bombenangriffen zu stoppen, hat man zurückgewiesen. Zwar versprach das US-Außenministerium in Anbetracht der Eskalation "zusätzliche Hilfe". Wie die allerdings aussehen soll, bleibt vorerst ungewiss.

Direkt in den Konflikt hineingezogen wird auch die Türkei. Die Geiselnahme von Dutzenden türkischen Lkw-Fahrern in der von den Islamisten eroberten Stadt Mosul und die Erstürmung des dortigen türkischen Konsulats werden von Ankara als quasi-Kriegserklärung aufgefasst. Zwar wurden die Türken am Donnerstag wieder freigelassen, doch die türkische Armee bleibt trotzdem unverdrossen auf Kriegskurs. Man prüfe einen Militäreinsatz gegen die Islamisten, ließ man nach einer Krisensitzung des nationalen Sicherheitsrates verlauten. Auch der NATO-Sicherheitsrat war noch Mittwochnacht auf Antrag der Türkei zusammengetreten.

Nicht nur im Irak, auch in Syrien, wo sie stärker und stärker werden, sind die Islamisten den türkischen Grenzen inzwischen gefährlich nahe gekommen – und ihre radikalen Visionen reichen weit darüber hinaus. Auch auf türkische Provinzen erhebt die radikalislamische Miliz Anspruch, wie auch im Internet verbreitete Landkarten deutlich machen. Der erstrebte Gottesstaat, für den ihre Kämpfer in den Krieg ziehen, erstreckt sich über sunnitisch dominierte Gebiete in Syrien, dem Irak und der Türkei.

Krise in der Türkei

Für die politische Opposition ist die Bedrohung durch die ISIL aber auch eine Folge der völlig verfehlten Außenpolitik der Regierung von Recep Tayyip Erdogan. Diese habe die Gefahr durch islamistische Terrorgruppen in der Region immer bewusst unterschätzt. Da man die staatlichen Autoritäten im Irak und in Syrien ohnehin zu schwächen versucht habe, habe man das Vordringen der ISIL hingenommen. Sogar Vorwürfe, Erdogans regierende AKP habe die Terroristen unterstützt, werden laut: Führende ISIL-Mitglieder hätten sich ungestört in die Türkei zurückziehen und von dort den Krieg organisieren dürfen. Ein führendes Mitglied der rechten MHP-Partei nannte die ISIL in einer Debatte im Parlament "eines der unehelichen Kinder der AKP-Nahostpolitik."

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