Russland lehnt Waffenruhe für Syrien als zu populistisch ab
Nur wenige Stunden vor der geplanten Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über eine 30-tägige Waffenruhe in Ost-Ghouta hat am Freitag eine neue Angriffswelle die syrische Region erschüttert. Den sechsten Tag in Folge bombardierten Kampfflugzeuge die belagerte Region östlich von Damaskus.
Nach Informationen der oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden seit Beginn der Bombardieren am Sonntag mindestens 417 Menschen getötet und Tausende verletzt. Nach Berichten medizinischer Helfer wurden zahlreiche Krankenhäuser getroffen. Eine Versorgung der Verletzten sei kaum noch möglich.
Die in Großbritannien ansässige Beobachtungsgruppe berichtete über Luft- und Artillerieangriffe auf die Ortschaften Douma, Zamalka, und andere Städte der Rebellenenklave. Ein Augenzeuge bezeichnete die Angriffe als die heftigsten bisher. Helfer und Rettungskräfte müssten immer wieder Menschen aus den Trümmern zerstörter Häuser graben.
Keine Einigung am Donnerstag
Eine Sondersitzung des UNO-Sicherheitsrats zum Syrien-Konflikt ist am Donnerstag in New York ohne Einigung über eine Waffenruhe zu Ende gegangen. Schweden und Kuwait hatten im Vorfeld einen Resolutionsentwurf in Umlauf gebracht, der eine 30 Tage lange Feuerpause sowie Zugang für humanitäre Helfer vorsieht. Die USA hatten ihre Zustimmung signalisiert.
Doch Russland machte während der Sitzung deutlich, es werde dem Entwurf in dieser Form nicht zustimmen. Der Entwurf wurde als "zu populistisch" abgelehnt. Laut BBC will Russland "praktikable Vorschläge". Außenminister Sergej Lawrow sagte am Donnerstagabend, es müsse eine weitere Gruppe, die Hayat Tahrir al-Sham, von der Feuerpause ausgenommen werden. Diese Miliz, die Verbindungen zu Al-Qaida haben soll, ist in der Rebellenenklave Ost-Ghuta vor den Toren von Damaskus aktiv. Laut UNO-Entwurf sollten nur die Gruppen des "Islamischen Staats", der Al-Qaida und der Nusra-Front von der Waffenruhe ausgenommen sein.
Als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats kann Russland mit einem Veto jede Resolution zu Fall bringen. Diplomaten zufolge könnte nach weiteren Beratungen möglicherweise am Freitag über das Papier - in welcher Form auch immer - abgestimmt werden.
Bei Bombardierungen der belagerten Region nahe der syrischen Hauptstadt Damaskus starben auch am Donnerstag mindestens 36 Zivilisten, mehr als 200 wurden verletzt, wie die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete.
Am Freitag soll es einen neuerlichen Versuch geben, eine Resolution zu verabschieden. Russland hat seine Änderungswünsche eingebracht. Ob es tatsächlich zu einem gemeinsamen Beschluss kommt, scheint fraglich.
Kritik aus Deutschland
Das Auswärtige Amt in Berlin reagierte mit Unverständnis auf das ergebnislose Treffen des Weltsicherheitsrats. Eine Einigung hätte den geschundenen Menschen in Syrien und vor allem Hunderttausenden eingeschlossenen Zivilisten in Ost-Ghouta wenigstens eine Atempause von unaufhörlichen Luftangriffen und brutaler Gewalt verschafft, teilte ein Sprecher am späten Abend mit. Russland stelle sich damit einmal mehr selbst bei schlimmsten Völkerrechtsverletzungen schützend vor den syrischen Machthaber Bashar al-Assad und dessen Führung.
Dennoch bleibe ein Rest Hoffnung, doch noch zu einer Einigung zu kommen. "Wir appellieren an die Entscheidungsträger in Moskau, einer vorübergehenden Einstellung der Kampfhandlungen zuzustimmen", hieß es seitens des Auswärtigen Amtes. "Die Einhaltung der elementaren Grundsätze des humanitären Völkerrechts darf nicht Verhandlungssache sein." Alle Beteiligten seien aufgefordert, die Kampfhandlungen zu beenden - sei es in Ost-Ghouta, sei es in Afrin.
Türkei bestätigt Beschuss von Konvoi
Die Türkei hatte am 20. Jänner eine Offensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG im nordsyrischen Afrin gestartet. Die türkischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben einen Konvoi der Kurdenmiliz YPG in Nordwestsyrien beschossen. Die Armee habe auf 30 bis 40 Fahrzeuge etwa 15 Kilometer südöstlich der Stadt Afrin gefeuert, teilte das Militär in der Nacht zum Freitag mit. Die Fahrzeuge hätten Waffen und Munition transportiert. Damit widersprach die Armee kurdischen Angaben, wonach es sich bei dem Konvoi um Zivilisten aus verschiedenen Teilen Nordsyriens handelte, die zur Unterstützung der Bevölkerung in die Stadt gekommen seien.
Die türkische Armee betonte, Ziel des Beschusses seien Milizen gewesen. Das Militär habe „wie immer“ Rücksicht genommen, damit keine Zivilisten zu Schaden kommen.
Die Türkei hatte am 20. Januar eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG in der nordsyrischen Region Afrin gestartet. Die Türkei sieht die YPG als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation. Berichte über getötete Zivilisten in der Afrin-Offensive bestreitet die Türkei.
"Wir sehen, dass die Türkei legitime Sicherheitsinteressen hat", so das Auswärtige Amt. "Genauso klar ist: Das offensichtliche Risiko einer Eskalation besorgt uns sehr. Deshalb machen wir in Gesprächen mit der Türkei immer wieder deutlich: Die türkischen Sicherheitsinteressen müssen sich im Rahmen des Notwendigen und Verhältnismäßigen bewegen."
Three Bilboards vor dem Sicherheitsrat
Vor dem UNO-Treffen zu Ost-Ghouta hatten Hilfsorganisationen den Sicherheitsrat mit drei Werbetafeln - wie bei der für sieben Oscars nominierten Tragikomödie "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" - zum Handeln im Syrien-Konflikt aufgefordert. "500.000 Tote in Syrien" - "Und immer noch kein Handeln?" - "Wie kann das sein, Sicherheitsrat?", stand auf den drei Tafeln auf Kleinlastern, die am Donnerstag vor dem UNO-Hauptgebäude in New York auftauchten.
Ost-Ghouta erlebt eine der schlimmsten Angriffswellen seit Beginn des Bürgerkriegs vor sieben Jahren. Seit Sonntag wurden dort den Menschenrechtsbeobachtern zufolge rund 370 Zivilisten getötet und fast 1900 verletzt.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilte die Angriffe der syrischen Regierungstruppen auf das Rebellengebiet als "Massaker" und plädierte für mehr Engagement der EU in der Krise. "Was wir im Augenblick sehen, die schrecklichen Ereignisse in Syrien, der Kampf eines Regimes nicht gegen Terroristen, sondern gegen seine eigene Bevölkerung, die Tötung von Kindern, das Zerstören von Krankenhäusern, all das ist ein Massaker, das es zu verurteilen gilt", sagte Merkel in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag. Sie forderte größere Bemühungen um ein Ende des Konflikts.
Deusche Kritik speziell an Russland
Dies gelte insbesondere auch für die Verbündeten des syrischen Machthabers al-Assad, Russland und den Iran, sagte Merkel weiter. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) habe am Morgen bereits mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer, telefoniert und wollte auch noch mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow sprechen. "Wir müssen alles, was in unserer Kraft steht, tun, damit dieses Massaker ein Ende findet."
Gabriel sagte zehn Millionen Euro zusätzlich für Hilfsmaßnahmen in dem Bürgerkriegsgebiet zu. Vor allem für die Versorgung und gegebenenfalls auch Evakuierung der Kinder solle die Hilfe dienen. Im vergangenen Jahr hat Deutschland 720 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in Syrien zur Verfügung gestellt. Seit Beginn des Bürgerkriegs 2012 waren es insgesamt 2,2 Milliarden Euro.
Ein Aktivist aus Ost-Ghouta berichtete der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag, wegen des heftigen Beschusses könnten selbst Retter nicht mehr auf die Straße, um Opfern zu helfen. "Dutzende Granaten fallen jede Minute herunter", sagte Masen al-Shami. Die Eskalation hatte bereits in den vergangenen Tagen weltweit große Besorgnis und Empörung ausgelöst.
400.000 Menschen eingeschlossen
Die Region gehört zu den letzten Gebieten des Bürgerkriegslandes, die noch unter der Kontrolle von Rebellen stehen. Dominiert wird die Region von islamistischen Milizen. Sie ist seit 2013 von Regierungstruppen eingeschlossen. Rund 400.000 Menschen sind dort wegen der Blockade fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Helfer berichten von einer dramatischen humanitären Lage. Seit Ende November konnte nur ein Hilfskonvoi das umkämpfte Gebiet erreichen. Ärzte ohne Grenzen (MSF) berichtete, seit Sonntag seien 13 Kliniken angegriffen und zerstört oder beschädigt worden.