Politik/Ausland

"Wenn ich will, nehme ich Kiew in zwei Wochen ein"

Seine Worte werden offenbar schärfer: Nicht nur, das der russische Präsident Wladimir Putin zuletzt offen von „Neurussland“ sprach, das die prorussischen Separatisten beherrschten - nun soll der Kremlchef in einem Telefonat mit EU-Kommissionschef Barroso auch offen mit seiner militärischen Stärke gedroht haben. „Wenn ich will, kann ich in zwei Wochen Kiew einnehmen“, soll Putin laut Barroso gesagt haben. Dies soll der scheidende EU-Kommissionspräsident beim EU-Gipfel am Samstag den dort versammelten Staats- und Regierungschefs berichtet haben, meldet die italienische Zeitung La Repubblica.

Barroso habe ihn wegen der angeblichen russischen Soldaten, die auf ukrainischem Staatsgebiet im Einsatz seien, zur Rede gestellt – Putin habe daraufhin deutlich machen wollen, dass man ihn nicht mit neuen Sanktionen provozieren solle. Laut Repubblica hätten mehrere anwesende Diplomaten das Gespräch bestätigt, auch gegenüber dem Spiegel wurden die Angaben als richtig bezeichnet.

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Die von Barroso angesprochenen Separatisten haben, beflügelt von Gebietsgewinnen, nun einen Sonderstatus für die eroberten Gebiete gefordert: Beim Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe haben sie auf einen Sonderstatus für die Ostukraine gepocht. Bei einem vierstündigen Gespräch in der weißrussischen Hauptstadt Minsk tauschten die Konfliktparteien am Montag Positionspapiere aus. Diese sollten geprüft werden, und die Gespräche könnten an diesem Freitag fortgesetzt werden, sagte Separatistenführer Andrej Purgin russischen Agenturen zufolge. Russlands Präsident Wladimir Putin sprach im Vorfeld vom Beginn "wichtiger direkter Verhandlungen". Die Aufständischen wollten bisher einen unabhängigen Staat "Noworossija" (Neurussland -mehr dazu siehe unten).

NATO: Ukraine verliert

Einen Schwenk in der Einschätzung der Lage dürfte offenbar das Militärbündnis NATO gemacht haben. Spiegel Online zitierte am Montag einen ranghohen NATO-General: "Militärisch ist der Konflikt für Kiew bereits verloren". Präsident Poroschenko, so seine Ansicht, blieben "eigentlich nur noch Verhandlungen, um seine Männer lebend aus der Zange der Russen abzuziehen".

EU weitet Sanktionen aus

Die EU-Regierungschefs erstarrten am Sonntag, die EU-Diplomatie stößt angesichts immer neuer russischer Provokationen an ihre Grenze. Einige EU-Repräsentanten sprechen von einem "Krieg" in der Ukraine, andere von Militär-Intervention Russlands. Als Gegenmaßnahme arbeitet die EU-Kommission an Sanktionen, die den gesamten Finanzsektor, Rüstungslieferungen und den Energiebereich treffen sollen. Pro-russische Kräfte in der Region Donbass sollen auf die Sanktionsliste kommen - die EU-Kommission wird diesen Samstag die Vorschläge für verschärfte Sanktionen vorlegen.

Lange schwirrte der Begriff Neurussland schon durch die Medien, nur im Kreml zog man es bis vor kurzem vor, darüber zu schweigen. Jetzt hat Wladimir Putin das Tabu gebrochen: Am Wochenende lobte er die ostukrainischen Separatisten ganz hochoffiziell als „Verteidiger von Neurussland“ – und bediente sich damit eines Begriffs, der die Russen schon seit mehr als 250 Jahren begleitet.

Historisch umfasst der Begriff nämlich jenes Gebiet, das das Heer des Zarenreichs Mitte des 18. Jahrhunderts von den Osmanen erobert hat – die heutige Süd- und Ostukraine also. Bis zur Eroberung durch die Russen trug das Land den Beinamen „Wildes Feld“; es galt als unbewirtschaftet und war wegen der vielen Kriege, die sich dort zugetragen hatten, auch mehrheitlich unbewohnt. Unter Katharina der Großen wurde es dann besiedelt – und zwar unter der Führung von Prinz Grigorij Potemkin, dessen nur aus Fassaden bestehende Dörfer ja bis heute einen gewissen Bekanntheitsgrad haben.

Bis zur Oktoberrevolution 1917 befand sich „Neurussland“ im Besitz des russischen Reiches, danach gab es lange Zeitspanne der territorialen Ungewissheit; mehrere sich bekämpfende Gruppen – Sowjets wie Vertreter der ukrainischen Volksrepublik etwa – erhoben Anspruch darauf. Erst nach der Gründung der Ukrainischen Sowjetrepublik wurde „Neurussland“ zum Teil der Sowjetunion. Die Begründung der Bolschewiken dafür war, dass sich die ukrainischstämmige Bevölkerung des Gebiets in der Mehrheit befand – etwas, das Putin heute geflissentlich ignoriert: „Gott allein weiß“, warum die Sowjet-Führung in Moskau diesen Teil des Landes an die Ukraine abgegeben habe, ließ er kürzlich wissen.

Verhandlungen abgesagt: Als Reaktion auf die Destabilisierung der Ukraine und die Annexion der Halbinsel Krim legte die EU als erste Reaktion die Verhandlungen mit Russland über Visa-Erleichterungen und ein Partnerschaftsabkommen auf Eis.

Einreiseverbote und Kontensperren: Die zweite bereits vollzogene Sanktionsstufe betrifft inzwischen 95 Russen und prorussische Ukrainer sowie 23 Unternehmen und Organisationen: Alle Konten bei europäischen Banken wurden gesperrt. Die namentlich Genannten dürfen nicht in die EU einreisen.

Wirtschaftssanktionen: Nach dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges MH 17 durch mutmaßlich prorussische Separatisten verhängte die EU Ende Juli Wirtschaftssanktionen. Betroffen sind Finanzdienstleistungen, Rüstungsexporte und -importe, Ausfuhren von Gütern, die neben einem zivilen auch einen militärischen Nutzen haben könnten, sowie Exporte von Schlüsseltechnologien für den Erdölbereich.

Russlands Gegenschlag: Als Reaktion darauf verhängte Russland ein „vollständiges Embargo“ für Fleisch, Obst, Gemüse und Milchprodukte aus der EU.

Die NATO wird wegen der Ukraine-Krise ihre Präsenz in Osteuropa verstärken. Ein beim NATO-Gipfel in Wales zu beschließender "Readiness Action Plan" werde sicherstellen, dass "wir mehr sichtbare NATO-Präsenz im Osten haben werden, so lange dies nötig ist", sagte Rasmussen am Montag in Brüssel.

Der NATO-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Wales werde "Herausforderungen in einer veränderten Welt angehen" und in die Geschichte der Allianz eingehen, sagte Rasmussen. Der "Readiness Action Plan" stelle eine Antwort auf "Russlands aggressives Verhalten" dar. Die militärischen Details und die genaue Anzahl der neuen Stützpunkte in Osteuropa würden nach dem Gipfel ausgearbeitet. Es sei klar, dass jedes NATO-Land in der einen oder anderen Form zu den Kosten beitragen werde.

"Speerspitze"

Verbessern werde die NATO auch ihre schnelle Eingreiftruppe. Es soll eine "Speerspitze" innerhalb der Eingreiftruppe entwickelt werden, die schnell einsetzbar sei, sagte Rasmussen. Durch Rotation könnten so "einige tausend Soldaten" zu Boden und Wasser zur Verfügung stehen. "Diese Truppe kann leicht bewegt werden und hart zuschlagen, wenn es notwendig ist." Jeder potenzielle Aggressor sollte wissen, dass er nicht nur auf die Truppen eines NATO-Landes, sondern auf die NATO selbst treffe.

Rasmussen wies Forderungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin nach Verhandlungen über eine Eigenstaatlichkeit der Ostukraine zurück. "Es ist zu allererst Sache der Ukrainer zu entscheiden, was die Zukunft ihres Landes ist." Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko habe seine Bereitschaft zu Reformen angekündigt, die auch die östlichen Regionen berücksichtigten. Dies sollte die Ukraine ohne äußere Einmischung diskutieren. "Die Ukraine ist ein souveränes Land".

Ukraine zur NATO?

Rasmussen ging auch auf Fragen nach einem möglichen NATO-Beitritt der Ukraine ein. Die NATO habe dazu beim Gipfel in Bukarest von 2008 ein klares Statement abgegeben. Rasmussen sagte, sollte das ukrainische Parlament nach den Wahlen die derzeitige Bündnisfreiheit des Landes per Gesetz streichen, würde diese Frage in der NATO-Ukraine-Kommission behandelt werden. Die NATO und die Ukraine würden dann an einem Plan für ihre Partnerschaft arbeiten. Es sei schwer, dafür einen Zeitplan zu nennen.

Der EU-Gipfel werde Georgien näher an die Allianz heranführen, sagte Rasmussen. So werde die NATO Georgien bei Reformen im Verteidigungsbereich unterstützen. Georgien selbst werde öfter an Übungen der NATO teilnehmen.

Die NATO hatte auf einem Gipfel im Jahr 2008 in Bukarest Georgien und der Ukraine eine symbolische Beitrittsperspektive zugesagt, ohne dafür ein Datum zu nennen. Einen "Aktionsplan für die Mitgliedschaft" (MAP) in der NATO haben beide Länder noch nicht bekommen.