Jazenjuk wird Premier, Klitschko nicht im Kabinett
Der Maidan ist zur zweiten Kammer des ukrainischen Einkammer-Parlaments geworden. Und so, wie er gebrannt hatte in der vergangenen Woche, der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, musste auch die ukrainische Übergangsregierung am Mittwoch auf ihm ihre Feuertaufe durchlaufen. Zehntausende hatten sich eingefunden, um zu erfahren, wer künftig die Ukraine lenken sollte. Und mit Spannung wurde erwartet, wie die Massen reagieren würden. Tagelang hatte die Entscheidungsfindung gebraucht.
Letztlich gab es einen Kompromiss – einer, der mit Buh-Rufen, Pfiffen und Zwischenrufen vom Maidan kommentiert wurde. Übergangspräsident Oleksandr Turchynow, ein enger Vertrauter von Ex-Premierministerin Julia Timoschenko, wurde vor allem durch Lautsprecher gerettet – so laut äußerte sich der Unwille. Arseni Jarzenjuk, ebenfalls ein Timoschenko-Vertrauter, wird Premierminister. Vizepremier wird Boris Tarasjuk, Außenminister unter Ex-Präsident Juschtschenko. Arsen Awakow, ebenfalls ein Parteigänger von Timoschenkos Batkiwtschina, wird Innenminister. Der Posten des Verteidigungsministers war noch in Diskussion. Andrej Paruby, Kommandant des Maidan, soll den Nationalen Sicherheitsrat übernehmen. Vitali Klitschko und seine Partei Udar fehlen im Kabinett.
Das Kabinett übernimmt ein Land in seiner bisher schwersten Krise während seiner kurzen Geschichte der Unabhängigkeit. Auf der Krim formiert sich eine offen pro-russische separatistische Bewegung. Die Wirtschaft liegt am Boden. Und das Vertrauen der Bürger in die politische Klasse ist vernichtend gering. In Reden wurde am Mittwoch auf die Einheit des Landes verwiesen, auf einen Tag, an dem im zutiefst ukrainisch-ukrainischen Lemberg demonstrativ Russisch gesprochen wurde. Die Antwort der Massen: Lauter Applaus.
Am Donnerstag wird das Kabinett seine einfache Pflichtübung durchlaufen: Das Parlament muss die Ministerliste bestätigen.
Alle Augen auf die Krim
Beunruhigend für die Menschen in der Hauptstadt ist die Situation auf der Halbinsel Krim, die bis 1954 zu Russland gehörte und dann als "Geschenk" an die Ukraine ging – bewaffnete Männer haben die Gebäude von Parlament und Regionalregierung besetzt, wie die Nachrichtenagentur Interfax am Donnerstag meldete. Sie beruft sich auf einen Anführer der Bevölkerungsgruppe der Krimtataren. Die etwa 30 Männer in Uniform, jedoch ohne Rangabzeichen, hätten am frühen Morgen mit Schnellfeuergewehren das Glas der Eingangstüren zerschossen und sich Zugang verschafft. Am Sitz des Ministerrats wurden zahlreiche Sicherheitskräfte zusammengezogen
Auf der ukrainischen Halbinsel soll sich derzeit auch Ex-Präsident Viktor Janukowitsch aufhalten. Dies hat auch die Staatsanwaltschaft bestätigt: Der Ex-Präsident sei noch immer im Land, hieß es.
Die autonome Region ist die größte Herausforderung für die kommende Regierung in Kiew. Am Mittwoch demonstrierten Zehntausende vor dem Regionalparlament. Pro-Europäer mit blau-gelben Fahnen riefen: "Die Ukraine ist nicht Russland."
Moskau-Treue mit russischen Fahnen erwiderten: "Die Krim ist russisch." Es kam zu Auseinandersetzungen. Medienberichten zufolge gab es mehrere Todesopfer. "Die neue ukrainische Regierung, das sind Faschisten", kopierte eine Frau die Diktion der Moskauer Politiker. "Wir wollen zu Russland", sagte sie zur BBC. "Die Gesetze der Ukraine funktionieren hier nicht", stimmte ihr ein junger Mann zu. Angesichts der Proteste ordnete Moskau an, die auf der Krim stationierte Schwarzmeerflotte zu sichern. Man fürchte Übergriffe.
Säbelrasseln in Russland
Während in Kiew in die Vorstellung der Regierung über die Bühne ging, brachten sich weiter im Osten die russischen Kräfte in Stellung. Ganz in der Nähe der Grenze zur Ukraine führte die Armee im Westen des Landes am Mittwoch ein Militärmanöver durch. Es diene – so hieß es in Moskau – der Übung.
Am Donnerstag wurden außerdem Kampfflugzeuge im Westen Russlands in Alarmbereitschaft versetzt.
Die Bereitschaft von rund 150.000 Soldaten soll überprüft werden, ebenso wie die Funktionstüchtigkeit von 880 Panzern, 90 Flugzeugen, 90 Schiffen und 120 Hubschraubern. Auch wenn Putin und seine Regierung es als reine Routineübung abtaten, rief das Manöver den Westen auf den Plan. London warnte vor Einmischung: "Wir fordern alle auf, dem ukrainischen Volk zu erlauben, den internen Streit beizulegen und dann über seine eigene Zukunft zu entscheiden", sagte Verteidigungsminister Hammond.
In Brüssel wiegelte der russische EU-Botschafter ab. Wladimir Schizow verteidigte die Militärübung gegenüber BBC. "Ich glaube nicht, dass Russlands Militär Signale nötig hat", antwortete er auf die Frage, ob das ein Wink an die neue proeuropäische Regierung in Kiew sei.
Nicht ohne Moskau
Im Laufe des Tages sprachen sich immer mehr EU-Vertreter erneut dafür aus, Russland bei der Lösung des Ukraine-Problems miteinzubeziehen. Ohne Moskau – das scheint den Vertretern in Brüssel klar zu sein – geht es nicht. Die Ukraine solle lange noch eine Brücke zwischen der EU und Russland sein, sagte der spanische Außenminister José Manuel García-Margallo.
Die Menschen in der Ukraine vertrauen mittlerweile weder den Behörden, noch den Politikern. Sie hoffen trotzdem vor allem auf eines: Stabilität. Denn das Land steuert auf eine Staatspleite zu. Hilfen aus Russland sind nach dem Sturz von Präsident Janukowitsch zunächst auf Eis gelegt. Und ein Hilfspaket von IWF und EU gibt es erst, wenn die neue Regierung feststeht und auch vom Parlament gewählt ist.
USA: Kreditbürgschaft
Die USA haben am Mittwoch allerdings eine Kreditbürgschaft von einer Milliarde US-Dollar (727 Millionen Euro) zugesagt. "Wir schnüren erst mal eine Garantie von einer Milliarde Dollar, zusammen mit einigen weiteren Elementen", sagte US-Außenminister John Kerry vor Reportern in Washington.
Als „politischen Selbstmord“ hat Arseni Jazenjuk noch vor kurzem jede Beteiligung an der ukrainischen Übergangsregierung bezeichnet. Nun soll der 39-Jährige als Ministerpräsident das Kabinett anführen - mit Zustimmung eines Großteils der Aktivisten auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew. „Diese Regierung steht vor einer ungeheuerlichen Herausforderung: Sie soll nichts Geringeres als das Land retten“, sagt Jazenjuk. Im blutigen Machtkampf hatte er mit mitreißenden Reden sein Image als blasser Technokrat abgeschüttelt.
Der Professorensohn stammt aus Tschernowzy (Czernowitz) in der Bukowina, etwa 500 Kilometer südwestlich von Kiew. Einst galt er als politischer Ziehsohn des damaligen Präsidenten Viktor Juschtschenko. Als Außenminister vertrat der perfekt Englisch sprechende Vater von zwei Töchtern die Ex-Sowjetrepublik bereits international. Bei der Präsidentenwahl 2010 landete er mit knapp sieben Prozent der Stimmen jedoch abgeschlagen auf dem vierten Platz.
"Platzhalter"
Seit Dezember 2012 führt Jazenjuk die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko als Fraktionsvorsitzender im Parlament. Bis zu Timoschenkos Haftentlassung galt er aber nur als „Platzhalter“ der charismatischen Politikerin. Nach der Rückkehr der 53-Jährigen gilt Jazenjuks Nominierung als Präsidentschaftskandidat als unwahrscheinlich. Die Kandidatur als Ministerpräsident gibt ihm nach Ansicht von Experten die Möglichkeit, aus ihrem Schatten zu treten.
Für die Rettung der angeschlagenen Ex-Sowjetrepublik bringt er Erfahrung mit: Jazenjuk ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften sowie Ex-Zentralbankpräsident und ehemaliger Wirtschaftsminister.
(Material: dpa)
Ziemlich stümperhaft erscheint der Versuch von Viktor Janukowitsch, Beweise für seine wirtschaftlichen und politischen Verbrechen zu vernichten. Hunderte Seiten Papier schütteten er und seine Getreuen einfach in den See seines protzigen Luxus-Anwesens nahe Kiew. Von spurloser Vernichtung keine Spur – ukrainische Journalisten und Taucher fischten die Seiten aus dem See. Auch viele angekohlte Schriftstücke des abgetauchten Ex-Präsidenten fanden sie. Alles wird von Journalisten und Kriminalisten getrocknet, sortiert und ausgewertet – und online gestellt.
Am Mittwoch waren Fotos von knapp 800 Dokumenten auf Yanukovychleaks.org zu finden. Dabei soll es sich um einen Bruchteil der Fundstücke handeln. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis alle Schriftstücke politisch und juristisch ausgewertet sind.
Bekannt wurde bereits, dass Janukowitsch kurz vor seiner Flucht noch 22.000 Sicherheitsbeamte auf den Maidan schicken wollte, um die Regierungsproteste blutig niederzuschlagen. Auch Akten über seine Gegner wurden gefunden, darunter ein Dossier über Tetyana Chornovol: Die Journalistin hatte nur durch großes Glück einen nächtlichen Angriff schwer verletzt im Freien überlebt. Janukowitsch Polizei tat diesen Angriff als banalen Überfall ab.
Zu den Fundstücken zählen viele Belege über sein Anwesen samt Golfplatz, Tiergarten und Luxus-Fuhrpark, darunter etwa eine Holzbestellung im Wert von 1,5 Millionen Dollar für seinen Tee-Salon. Auch ein Beleg über einen Bargeldtransfer 2010 über zwölf Millionen Dollar – ohne Angabe wofür – fand sich. Klar ist hingegen, dass sich Janukowitsch die Überwachung der Medien vier Millionen Euro kosten ließ.