Das Gefühl vom "kollektiven Wahnsinn"
Von Stefan Schocher
Ist alles vorbei, oder fängt es erst an? Diese Frage spaltet in Kiew die Meinungen. Für jene Menschen, die nach wie vor Kampfanzüge tragen und Barrikaden um den Unabhängigkeitsplatz Maidan in Kiew bewachen, fängt alles erst an. Für die Allermeisten aber, die den Frühling genießen, schlendern oder zur Arbeit gehen, ist es vorbei: "Was soll’s, der Donbass ist weg", sagt eine junge Frau, die zur Arbeit eilt. "Wir müssen uns damit abfinden und weitermachen, wieder zu einem Normalmodus finden." Zu diesem Modus gehören aber nach wie vor Grüppchen Uniformierter, die in Reih und Glied marschieren und äußerst stolz sind auf ihre Abzeichen. All das, während sich die Regierung in Kiew äußerst schwer tut, mit der Krise umzugehen.
Der runde Tisch ging Mittwochabend ohne Ergebnis zu Ende - weitere Gespräche könnte es am Samstag geben.
Waffenverkäufe gestiegen
In der Abenddämmerung spielt ein alter Mann auf einem Klavier auf dem Maidan ein trauriges Lied. Einige Leute klatschen andächtig, als er fertig ist. Der Platz ist zu einer Pilgerstätte geworden – mit kommerziellem Erfolg. Zwischen den Zelten der Paramilitärs stehen Buden mit Schals, Käppis oder Kühlschrankmagneten mit Symbolen der Revolte. An anderen Orten stehen kleine Stelen mit den Namen der Toten der Revolution. Blumen werden niedergelegt, Kerzen angezündet. Es wird gebetet und sich bekreuzigt.
"Wir haben nicht vergessen und wir werden nicht vergeben", sagt ein sehr junger Mann in einem Tarnanzug und Schutzweste – genau denselben Spruch verwenden die Separatisten in Donezk, wenn es um die Toten von Odessa, Mariupol oder Slowjansk geht. Aus Sicht der Separatisten waren es die ukrainischen Sondereinheiten, die sich am Maidan hatten verteidigen müssen, gegen eine blutrünstige Meute, die nun auch in Odessa zugeschlagen hat und Truppen in den Osten schickt. Aus einhelliger Sicht hier waren es die ukrainischen Sondereinheiten, die blutrünstig versucht hatten, die Revolution niederzuschlagen. Und in Odessa bezeichnen es viele als inszenierte Provokation pro-russischer Kräfte, um pro-ukrainische Aktivisten zu diskreditieren. Raum für Debatten zwischen diesen beiden Position gibt es kaum. Und eine gründliche Aufklärung der Geschehnisse findet nicht statt.
"Ich habe das Gefühl, dass alles in kollektiven Wahnsinn verfällt", sagt ein Student der Philosophie. Er meint sowohl Kiew als auch den Donbass. Den gegenseitigen Hass. Die völlig unvereinbaren Positionen. Jahrelang habe die Ukraine durchaus mit Unterschieden zwischen West und Ost, aber alles in allem doch friedlich funktioniert. "Und von einem Tag auf den anderen rennen Leute mit Waffen herum, meinen Schützengräben um Kiew graben zu müssen und Panzerstellungen, der kleinste Vorfall wird zur Provokation aufgespielt." Es folgt eine Pause. "Leute, atmet einmal kräftig durch!"
Lawrow: Am Rande des Bürgerkrieges
Die Ukraine steht nach Einschätzung des russischen Außenministers Sergej Lawrow am Rande eines Bürgerkriegs. "Wenn Ukrainer sich gegenseitig töten, dann befinden wir uns so nahe wie nur irgend möglich an einem Bürgerkrieg", sagte Lawrow am Mittwoch in einem Interview mit Bloomberg TV.
Im Osten und Süden der Ukraine herrsche bereits "ein echter Krieg, in dem schwere Waffen eingesetzt werden". Ein solches Umfeld sei nicht geeignet, um freie und faire Wahlen am 25. Mai abzuhalten, sagte Lawrow. Er bekräftige seine Forderung, auch Vertreter der prorussischen Aktivisten an den Verhandlungen mit der Übergangsregierung zu beteiligen.
"Wenn wir jetzt nicht handeln, wird der Preis morgen noch höher." Mit drastischen Worten drängt Artur Lorkowski, Polens Botschafter in Österreich, auf mehr Härte, vor allem aber Geschlossenheit der EU gegenüber Russland. Entscheidend seien die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine am 25. Mai.
Sollten diese im umkämpften Osten nicht weitgehend regulär stattfinden, sei es an der Zeit, die Sanktionen gegen Russland auf Stufe drei anzuheben: Die richten sich plangemäß gegen ganze Zweige der russischen Wirtschaft. In Warschau, betonte der Botschafter gegenüber dem KURIER, sei man sich bewusst, dass derartige Sanktionen nicht nur Russland, sondern auch die EU treffen würden. Doch die historische Erfahrung im Umgang mit Diktaturen zeige, dass zögern nichts bringe. Die Konsequenzen würden nur schwerwiegender.
"Energie-Union"
Den Grund für die Entscheidungsschwäche der EU sieht der Diplomat vor allem in der Abhängigkeit vieler Mitgliedsstaaten von russischer Energie. Deshalb drängt Warschau auf eine neue Energiepolitik, die diese Abhängigkeit reduzieren soll. Erst eine europäische "Energie-Union" könne sich gegen politische Erpressung Russlands effizient zur Wehr setzen.
Das Maßnahmenpaket, über das im Juni die EU-Kommission und danach der Rat der Regierungschefs beraten werden, hat vorrangig zum Ziel, die Position der EU-Staaten auf dem Energiemarkt zu verbessern. Da sich der russische Energieriese Gazprom in vielen Ländern eine quasi Monopolstellung als Anbieter verschafft habe, müssten auch die Käufer dem geschlossen gegenübertreten. Ein Verbund zum Kauf von Gas und Öl hätte den Preis viel besser unter Kontrolle. Zudem müssten auch die Energieleitungen – für Gas und Strom – zwischen den Ländern verbessert und gemeinsame Notfallspläne im Falle eines neuen Gaskriegs mit Russland erstellt werden. Alleingänge wie den der österreichischen OMV mit der geplanten "South Stream"-Pipeline sieht man in Warschau daher skeptisch.