In Tunesien regiert die Wut
Der Schock über den Mord an Chokri Belaid hat sich in Wut verwandelt. Wut über die Regierung, Wut über die Wirtschaftslage, Wut über die schleppenden Fortschritte nach dem, was man so hoffnungsvoll als „Arabischen Frühling“ bezeichnet hatte. Der 48-jährige Oppositionelle war am Mittwoch auf dem Weg in die Arbeit von Unbekannten erschossen worden.
Seine Partei „Vereinigte demokratische Patrioten“ hatte bei den Wahlen 2011 zwar nicht einmal ein Prozent erreicht, aber der charismatische Redner galt als einer der schärfsten Kritiker der Islamistenpartei Ennahdha. Seit seinem Tod demonstrieren die Tunesier wieder Seite an Seite – in Tunis und in Dutzenden anderen Städten. Wieder hat es ein Toter geschafft, Tunesier über Parteigrenzen hinaus zu einen. Sogar der Ausdruck „neuer Märtyrer“ fiel. Am 17. Dezember 2010 war es der junge Gemüsehändler Mohammed Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung die Proteste in der südtunesischen Stadt Sidi Bouzid ausgelöst hatte, die zum Sturz des Langzeitherrschers Ben Ali führten.
Vermeidbar
Die Eskalation rund um Belaids Mord war nicht unvermeidbar gewesen. Sein Tod war nur das Produkt dessen, was sich seit Monaten zusammengebraut hatte: Spannungen – vor allem zwischen Säkularen und Islamisten – sind immer größer geworden. Die Touristen und Investoren blieben dem Land wegen der wachsenden politischen Instabilität und der undurchsichtigen Sicherheitslage fern. Somit wuchs die Wirtschaftskrise, und die Arbeitslosigkeit – vor allem unter Jugendlichen – stieg. Die Regierungskoalition aus Ennahdha, Linken und Sozialisten hat im letzten Jahr wenig weitergebracht. Sie hat sich unerfahren und hilflos präsentiert.
Die neue Verfassung ist immer noch nicht auf dem Weg, es fehlen Infrastrukturmaßnahmen, eine Bildungsreform und eine Neuaufstellung des Sicherheitsapparates. Für viele war es nur eine Frage der Zeit, bis das Fass überläuft. Seit dem Anschlag auf die US-Botschaft in Tunis im September – aus Protest auf ein Mohammed-Spottvideo – ist die Welle der politischen Gewalt ungebrochen. Auch Chokri Belaid hatte das mehrmals beklagt. Für die Opposition ist klar: Die Regierung hat Belaids Blut an ihren Händen. Weil sie seit Wochen und Monaten verabsäumt, gegen politische Gewalt vorzugehen. „Jedenfalls hat sie zur Schaffung jenes Klimas beigetragen, das dieses Attentat möglich machte“, sagt Hardy Ostry von der Konrad Adenauer Stiftung in Tunis.
Ennahdha gespalten
Mittwochabend kündigte Premier Hamadi Jebali (Ennahdha) eine Technokratenregierung an. Ein mutiger, aber auch populistischer Zug. Prompt kam der Protest – aus der eigenen Partei. Ennahdha-Führungsmitglieder protestierten gegen die „einseitige“ Initiative Jebalis und stellten sich gegen ihn. Viele andere – vor allem aus der Opposition, aber auch aus dem gemäßigten Flügel der Ennahdha – begrüßten die Idee. „Das ist die einzig wahre Lösung“, sagte Linkspolitiker Abdelaziz Belkhodja. Jebali, der damit seine eigene politische Zukunft aufs Spiel setze, habe „damit bewiesen, dass er Nationalist ist.“ Ihn nicht zu unterstützten sei töricht. „Jetzt oder nie! Das ist eine Chance für Tunesien!“
Im Hotel bekommt der Gast aus dem Ausland meistens das beliebte Zimmer mit Meerblick, im Frühstücksraum kann er zwischen etlichen leeren Tischen wählen. Es ist keine Seltenheit, dass mehr als ein Kofferträger bei der Ankunft im All-inclusive-Klub bereitstehen. Viele Zimmer bleiben leer. Nicht nur die für die tunesische Wirtschaft so wichtigen ausländischen Investitionen bleiben aus, auch Privatpersonen trauen der politischen Lage in dem südlichen Mittelmeerland noch nicht so recht.
„Nummer sicher“
Derzeit liegen die Tourismuszahlen rund 25 Prozent unter dem Wert von 2010, also vor dem Beginn der arabischen Aufstände. „Vor allem Familien mit Kindern, unsere Hauptzielgruppe im Sommer, wollen auf Nummer sicher gehen und warten noch ab“, sagt Béatrice Chicanaux vom Tunesischen Fremdenverkehrsamt in Wien.
Im Jahr 2011 ist der Tourismus aus Europa um 50 Prozent eingebrochen. Auch aus Österreich reisten nur halb so viele Urlauber an wie im Jahr zuvor.
2012 erholte sich der Fremdenverkehr wieder einigermaßen, kam aber nur auf drei Viertel der Auslastung vor der Revolution. „Die Verluste hängen unmittelbar mit dem Arabischen Frühling zusammen, ein Gefühl der Unsicherheit hat viele Touristen in andere Destinationen geleitet“, sagt Chicanaux auf KURIER-Anfrage. Mit der Eurokrise hätten die Verluste hingegen kaum zu tun, da das Preis-Leistungs-Verhältnis im Vergleich zu anderen Mittelmeerdestinationen „sehr attraktiv“ sei.
14. Jänner 2011 Präsident Ben Ali flieht nach 23 Jahren an der Macht ins saudiarabische Exil. Dort lebt er bis heute.
20. Juni 2011 In einem Prozess ohne Angeklagten verurteilt ein Gericht den Ex-Präsidenten wegen Veruntreuung von Staatsvermögen zu 35 Jahren Haft sowie einer Geldstrafe und Schadenersatz von umgerechnet 46 Milliarden Euro. Weitere Verurteilungen folgen.
23. Oktober 2011 Die unter Ben Ali als extremistisch verbotene, islamistische Bewegung Ennahda um Rachid Ghannouchi gewinnt die ersten freien Wahlen. Die Partei erreicht 90 von 217 Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung.
11./12./13. Dezember Die verfassungsgebende Versammlung verabschiedet eine Übergangsverfassung. Damit wird der Weg geebnet zur Bildung einer Übergangsregierung unter Hamadi Jebali (Ennahda), die aber auf Bündnispartner angewiesen ist. Die Versammlung wählt den linksgerichteten Dissidenten und Menschenrechtler Moncef Marzouki aus der CPR-Partei (Kongress für die Republik), die sich mit der Ennahda verbündet hat, zum Staatspräsidenten.
14. Jänner 2012 Tausende feiern den ersten Jahrestag des Sturzes von Ben Ali. Am Rand der Feiern kommt es zu Protesten gegen die neue Regierung. Viele Tunesier kritisieren, dass sich die wirtschaftliche Lage seit der Revolution nicht verbessert habe.
19. Juli 2012 Ein Militärgericht in Tunis verurteilt Ben Ali wegen seiner Mitschuld am Tod von Demonstranten in Abwesenheit zu lebenslanger Haft.
14. September 2012 Bei einem Angriff auf die US-Botschaft in Tunis kommen mindestens vier Menschen ums Leben. Eine aufgebrachte Menschenmenge hatte aus Protest gegen ein amerikanisches Schmähvideo über den Propheten Mohammed die Botschaft attackiert.
6. Februar 2013 Unbekannte erschießen den Anführer der säkularen, oppositionellen Bewegung der demokratischen Patrioten, Chokri Belaid. In Tunis und anderen Städten versammeln sich Tausende Menschen zu Protestkundgebungen. Es kommt zu Ausschreitungen.
ÄGYPTEN Präsident Hosni Mubarak wurde im Februar 2011 gestürzt. Zunächst übernahm das Militär die Macht, dann wurde der Muslimbruder Mohammed Mursi zum Präsidenten gewählt. Doch das Land kommt nicht zur Ruhe. Der autoritäre Führungsstil des Staatsoberhaupts sorgt immer wieder für Proteste. Die dramatische Wirtschaftslage verschärft die Situation noch. Die Opposition fordert den Rücktritt Mursis und lehnt jeden Dialog mit dem Präsidenten ab. Im Jänner kam es nach dem zweiten Jahrestag der Revolution zu den blutigsten Protesten seit dem Amtsantritt des Islamisten mit fast 60 Toten. In drei Städten am Suez-Kanal wurde daraufhin der Ausnahmezustand verhängt.
JEMEN Nach monatelangen Protesten erklärte Langzeitpräsident Ali Abdullah Saleh im November 2011 seinen Machtverzicht. Seitdem kämpft das Land mit den Folgen des Umbruchs. In dem Armenhaus im Süden der Arabischen Halbinsel haben Aufständische massiv an Einfluss gewonnen. Immer wieder gibt es Anschläge. Die jemenitische Armee geht hart gegen die dem Terrornetzwerk Al-Kaida nahestehenden Jihadisten vor. Die USA hilft mit Drohnen. Präsident Abed Rabbo Mansour Hadi hat nun einen nationalen Dialog angekündigt. Er soll am 18. März beginnen.
LIBYEN Das nordafrikanische Land hat seit dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi einige Schritte in Richtung Demokratie unternommen. Doch nach Parlamentswahl und Regierungsbildung droht wegen des Streits um den Verfassungsprozess politischer Stillstand. Die größten Herausforderungen für die Regierung sind außerdem die schlechte Sicherheitslage und die Präsenz zahlreicher Milizen. Jüngst haben mehrere westliche Staaten ihre Bürger aufgefordert, die Stadt Benghazi wegen einer "unmittelbaren Bedrohung" zu verlassen. Im September vergangenen Jahres waren dort bei einem Terroranschlag auf das US-Konsulat vier US-Bürger getötet worden, unter ihnen der US-Botschafter in Libyen.
SYRIEN Der Aufstand gegen Präsident Bashar al-Assad begann im März 2011. Inzwischen tobt im Land ein Bürgerkrieg, bei dem nicht nur Regierung und Rebellen, sondern auch verschiedene ethnische oder religiöse Gruppen gegeneinander kämpfen. Nach UNo-Schätzungen kamen mehr als 60:000 Menschen ums Leben. Die internationale Gemeinschaft ist in der Frage weiter zerstritten. Einen Dialog zwischen Regierung und Opposition gibt es ebenfalls nicht.