"Warum sind Flüchtlinge nicht glücklich bei uns?"
Von Hans Jungbluth
Flüchtlinge in der Türkei haben eine neue Route nach Westeuropa entdeckt – auf dem Landweg über Bulgarien in Richtung Norden, statt mit dem Boot nach Griechenland. Das Risiko ist zu groß: Erst am Dienstag kenterte vor der türkischen Küste erneut ein Holzboot. 211 Flüchtlinge konnten gerettet werden, aber mindestens 22 Menschen starben, darunter auch vier Kinder und elf Frauen.
Schlepper wählen Landweg
Schlepper wählen immer öfter den Landweg. Laut Behörden wurden vergangene Woche an einem einzigen Tag mehr als 700 Flüchtlinge in der Grenzprovinz Edirne im europäischen Teil der Türkei gefasst. Seit Mitte August sind es fast 2000 Festnahmen. Die Straßenkontrollen wurden verstärkt.
Syrer und Iraker sind überzeugt, dass sie in Westeuropa mit offenen Armen empfangen werden. Man erzähle sich unter Flüchtlingen, dass Deutschland weitere 400.000 Menschen aufnehmen werde, berichtete der türkische Dienst von Al-Jazeera am Dienstag. Die jüngsten Grenzschließungen in Europa haben sich noch nicht herumgesprochen. Die türkischen Behörden hatten den Westeuropäern in den vergangenen Wochen vorgehalten, Flüchtlinge mit bereitwilliger Aufnahme anzulocken. Besonders die Niederlande und Schweden versprächen Syrern einen sofortigen Asylstatus, ließ sich ein türkischer Regierungsvertreter in der Hürriyet zitieren.
Unterdessen fragen sich einige Türken, warum so viele Syrer Tausende von Euro an Schlepper zahlen und sogar ihr Leben riskieren, um die Türkei verlassen zu können. "Warum sind die nicht glücklich bei uns?" fragte Moderator Mirgün Cabas im Sender CNN-Türk ratlos.
Keine Perspektiven
Experten glauben, darauf eine Antwort zu haben. Die Türkei habe zwar bei der Erstaufnahme von knapp zwei Millionen syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge und 250.000 Iraker viel geleistet, versage aber bei ihrer Integration. Es fehlen Perspektiven für ein dauerhaftes Leben in der Türkei. Flüchtlinge erhalten grundsätzlich keinen Asylstatus, dürfen nicht legal arbeiten, staatliche Sprachkurse oder andere Integrationshilfen gibt es nicht. Ankara verlasse sich seit vier Jahren darauf, dass Syriens Präsident bald entmachtet werde. "Wir in der Türkei tun immer noch so, als werde Assad morgen gestürzt, so dass die Flüchtlinge nach Hause gehen können", sagte der Experte Murat Erdogan von der Hacettepe-Universität auf CNN-Türk.
Kinder nicht in Schule
Etwa 15 Prozent der syrischen Flüchtlinge leben in einem der gut 20 Lager, wo sie registriert und versorgt werden. Andere haben Geld für eine Wohnung, aber die meisten leben bei Verwandten oder auf der Straße, sind nicht erfasst. Präsident Erdogan schätzt, dass mehrere Hunderttausend syrische Kinder in der Türkei ohne Schulbildung aufwachsen.