Stiller Protest auf dem Taksim-Platz
Istanbul hat nach den wochenlangen Auseinandersetzungen zwischen regierungskritischen Demonstranten und der türkischen Polizei eine vergleichsweise ruhige Nacht hinter sich. Laut Aktivisten kam es allerdings auf dem zentralen Taksim-Platz zu mehreren Festnahmen, als sich Dutzende Gegner der islamisch-konservativen Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dem stillen Protest eines einzelnen Demonstranten anschlossen.
Die Berichte über den stillen Protest des stehenden Mannes (türkisch: duran adam), der stundenlang auf dem Taksim-Platz verharrt und auf ein Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk gestarrt hatte, verbreiteten sich über den Kurznachrichtendienst Twitter und über Facebook.
Als sich andere Demonstranten dieser Form des Protests anschließen wollten, seien sie von der Polizei abgeführt worden, meldeten Aktivisten. Es sei aber alles friedlich geblieben. Der Taksim-Platz selber war für Fußgänger und den Verkehr in der Nacht offen.
Der stille Demonstrant soll der Choreograf Erdem Gündüz sein. Er soll selbst von der Polizei durchsucht und befragt worden sein, er wurde aber später wieder freigelassen, das berichtete CTV News. Die Schauspielerin Ruken Demirer berichtete laut Hürriyet Daily News, dass Gündüz ihr Mitbewohner sei und er den Protest noch monatelang fortsetzen wolle.
Andernorts in Istanbul soll die Polizei dagegen erneut Tränengas gegen Demonstranten eingesetzt haben. Auch aus der Hauptstadt Ankara wurden wieder Zusammenstöße gemeldet.
Im Land am Bosporus dreht sich die Spirale der Eskalation mit jedem Tag schneller. Am Montag drohte der Stellvertreter des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan den Demonstranten, die den Rücktritt der Regierung fordern, sogar mit dem Einsatz der Armee: Sollten die polizeilichen Maßnahmen nicht ausreichen, „können auch die Streitkräfte eingesetzt werden“, sagte Bülent Arinc.
Österreichs Außenminister zeigte sich entsetzt: „Die Drohung, die Armee gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, ist alarmierend. Die türkische Führung sollte diesen Rubikon nicht überschreiten“, sagte Michael Spindelegger zum KURIER. Statt auf Einschüchterung sollte die türkische Regierung auf Dialog setzen und alles für die Einhaltung der Menschenrechte sowie die Wahrung der Grund- und Bürgerrechte tun. Die EU müsse „eine klare Haltung einnehmen und Ankara klarmachen, dass die Gewährleistung dieser Grund- und Menschenrechte ein Kernelement der europäischen Wertegemeinschaft und notwendige Voraussetzung für die Annäherung der Türkei an die EU ist“, so Spindelegger.
„Einschüchterung“
Dass tatsächlich Panzer rollen werden, glaubt der Politologe Gerald Knaus aber nicht. „Zum einen traut Erdogan der Armee nicht – sie wollte früher ja gegen ihn putschen. Zum anderen braucht er sie nicht. Ich halte das für eine weitere Einschüchterungsmaßnahme“, so der Leiter des ThinkTanks „European Stability Initiative“, der seit Jahren in Istanbul lebt. Auswege aus der Krise sieht der Österreicher derzeit nicht. Die Proteste – „erstmals nicht von den alten Eliten getragen, sondern von einer neuen Zivilgesellschaft“ – würden weitergehen; und der Premier würde weiter auf Konfrontation gehen.
„Das liegt in seinem Naturell. Er betrachtet den Aufstand als Versuch, demokratische Wahlergebnisse außer Kraft zu setzen und ihn von der Macht zu verdrängen. Und er sieht das Ganze in der Kontinuität des Kampfes der vergangenen zehn Jahre – gegen die alten Kemalisten, die Bürokratie, das Militär“, analysiert Knaus im KURIER-Interview. Das sei zwar eine völlig „verzerrte Wahrnehmung, aber er glaubt das wirklich“. Der Premier sei immer nur dann zu Kompromissen bereit, wenn er dies aus einer Position der Stärke tun könne. Sein Motto: „Keine Schwäche zeigen, sonst überlebst du nicht im Haifisch-Becken der türkischen Politik.“
Strategie der Härte Zweitens würde Erdogan mit seiner Strategie der Härte auch die eigene Partei wieder auf Linie bringen. Denn in dieser habe es vor den Taksim-Ereignissen gebrodelt. „Viele hätten große Zweifel an den Plänen des Regierungschefs, mithilfe der kurdischen Abgeordneten die Verfassung zu ändern, um dann – ausgestattet mit umfassenden Befugnissen – das höchste Amt im Staat anzustreben“, so Knaus.
Intern soll der starke Mann vom Bosporus Abweichlern gedroht haben. Deswegen traue sich derzeit niemand aus der Deckung. „Doch der Rückhalt Erdogans in seiner Partei ist geringer, als man glauben möchte“, mutmaßt der Experte. Erdogans Muskelspiele seien aber riskant. Denn je größer der Image-Schaden im Ausland, desto gravierender könnten die Folgen für die türkische Wirtschaft sein. „Die ist in hohem Maß von Investitionen und Tourismus abhängig. Wenn das Vertrauen in die Stabilität des Landes verloren geht, könnte sich das rächen“, betont Knaus.
Der Politologe zieht ein bitteres Resümee nach den Auseinandersetzungen: „Erdogan hatte viele Möglichkeiten, zu deeskalieren, er ließ sie alle aus und hat das Land in eine Sackgasse geführt.“
Die Türkei bleibt ein beliebtes Reiseziel der Österreicher – daran ändern auch die Unruhen in Istanbul und Ankara nichts. Die heimischen Reisebüros melden eine stabile Buchungslage. Und auch Tausende Jugendliche genießen derzeit ungestört ihre Maturareise. Das deutsche Auswärtige Amt warnt dennoch: „Reisende werden weiterhin gebeten, sich von Demonstrationen und Menschenansammlungen fernzuhalten. Es wird zu besonders umsichtigem Verhalten aufgerufen.“
„Die Unruhen betreffen in erster Linie Istanbul, vereinzelte friedliche Demonstrationen gibt es in Antalya. Die Baderegionen sind überhaupt nicht betroffen“, sagt Kathrin Limpel, Pressesprecherin von TUI. Bisher habe man nur vereinzelte Anfragen von Kunden erhalten. „Es gibt keine Stornierungen. Sogar Kunden, die Istanbul gebucht haben, treten die Reise an. Die Sehenswürdigkeiten sind ohne Probleme zugänglich.“ Wer dennoch Bedenken hat, „für den finden wir eine Lösung“, erklärt Limpel.
Walter Krahl von Ruefa-Reisen bestätigt: „Wir haben keine Stornierung.“ Auch langfristig werde die Türkei für Urlaube gebucht.
„Nur bei kurzfristigen Urlauben bemerken wir einen Rückgang. Da gibt es eine leichte Verunsicherung.“ Die bevorzugen dann andere Reiseziele für den Spontan-Urlaub.
Stabile Buchungen
Rewe Austria Touristik bietet im aktuellen Programm überhaupt nur Hotelanlagen in der Küstenregion an. „Die Lage in diesen Urlaubsorten ist ruhig. Aber wir sind ständig mit den Agenturen vor Ort in Kontakt und verfolgen die aktuelle Situation“, kommentiert Geschäftsführer Martin Fast.