Erdogan musste sich verstecken
Eigentlich ist Recep Tayyip Erdogan bekannt dafür, dass er sein Publikum genau einschätzen kann. Umso erstaunlicher ist für viele Türken das Verhalten, das ihr Ministerpräsident nach dem verheerenden Grubenunglück im westtürkischen Soma an den Tag legt. Statt Mitgefühl mit den Opfern und deren Angehörigen zu zeigen, verkündete er bei einem Besuch in Soma, Unglücke gehörten nun einmal zum Wesen des Bergbaus. "So etwas passiert."
Der Auftritt des 60-Jährigen löste Proteste in Soma aus, einer Stadt, die noch vor wenigen Wochen bei den Kommunalwahlen die Erdogan-Partei AKP mit rund 43 Prozent zur klar stärksten Kraft gemacht hatte. Der Ministerpräsident brach seinen Besuch in Soma frühzeitig ab.
Erdogans Berater Yusuf Yerkel sorgte für Negativ-Schlagzeilen, als er in Soma auf einen auf dem Boden liegenden Demonstranten eintrat. "Unglaubliche Worte" habe der Ministerpräsident gesprochen, kommentierte die Zeitung Taraf.
Die Leibwächter des Regierungschefs montierten in Soma sicherheitshalber das Nummernschild "0002" vom Wagen ab, damit es von der wütenden Menge nicht als Fahrzeug des Premiers erkannt werden konnte. Erdogan soll vorübergehend Schutz in einem Supermarkt gesucht und dort einen Mann geohrfeigt haben – eindeutige Beweise lagen vorerst aber nicht dafür vor.
Aufgeheizte Stimmung
Erdogans Äußerungen und Yerkels Tritt fachten die Spannungen im Land an, in dem nach dem Unglück ohnehin bereits eine aufgeheizte Stimmung herrschte. Angehörige von vermissten Bergarbeitern in Soma schimpften über die Besuche der Politiker. "Gebt uns erst mal unsere Toten", riefen einige. Immer noch wurden am Donnerstag mehrere Dutzend Kumpel vermisst; die Opposition geht von rund 350 Todesopfern aus. Aber niemand weiß genau, wie viele Bergarbeiter sich in der Grube aufhielten, als Dienstag unter Tage ein Trafo explodierte, der ein Feuer auslöste, wodurch die Strom- und Frischluftversorgung lahmgelegt war.
Kritiker werfen der Regierung Erdogan vor, bei der Privatisierung von staatlichen Kohlebetrieben in den vergangenen Jahren die Arbeiterrechte ignoriert zu haben. Der Bergwerksbetreiber von Soma, die Soma Holding, lobte sich selbst dafür, die Produktionskosten pro Tonne Kohle von 140 US-Dollar auf unter 30 Dollar gesenkt zu haben. Das ging auf Kosten der Sicherheit, sagen Kritiker.
Die Zeitung Hürriyet berichtete am Donnerstag, die Türkei gehöre zu den wenigen Kohleförderländern in der Welt, in denen es unter Tage kaum Schutzräume für Bergarbeiter gebe, die im Fall eines Unglücks wie in Soma dort mit Frischluft, Wasser und Kommunikationsmitteln versorgt werden könnten. Mit einer Investition von nur fünf Millionen Dollar hätten alle Kumpel gerettet werden können, rechnete das Blatt seinen Lesern vor. Die ILO-Konvention zur Sicherheit in Bergwerken hat die Türkei bisher nicht unterzeichnet.
Gewerkschaftsverbände und Oppositionsparteien gehen gegen Erdogan auf die Barrikaden. Sie riefen zu Streiks und Demonstrationen auf. In mehreren Städten kam es zu Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizisten. Die Stimmung unter den Kundgebungsteilnehmern gleicht der des Vorjahres, als Millionen von Türken gegen Erdogan auf die Straße gingen. Damals entzündeten sich die Proteste an einem – inzwischen von den Gerichten gestoppten – Bauvorhaben der Regierung im Istanbuler Gezi-Park.
Damals wie heute antwortete Erdogan mit hartem Durchgreifen: Die türkische Polizei löste am Mittwoch und Donnerstag auch friedliche Proteste sofort auf.
Präsidentschaftswahl
Im Hintergrund der Auseinandersetzungen steht die nahende Präsidentschaftswahl am 10. August. Erdogan will in den kommenden Wochen bekannt geben, ob er im August antritt. Seit dem AKP-Sieg bei den Kommunalwahlen gilt die Bewerbung des Premiers um das höchste Staatsamt als so gut wie sicher. Angeblich zögert Erdogan nur deshalb mit der Bekanntgabe seiner Kandidatur, weil er seine Nachfolge in der AKP regeln will.
Einige Experten rechnen damit, dass die Katastrophe von Soma für Erdogan schwere politische Folgen haben wird. Immerhin geht es hier nicht um Proteste der urbanen Intelligenzia, sondern um ein Unglück, das typische AKP-Wähler traf: Arbeiter, kleine Handwerker, vorwiegend konservativ.
Es ist nicht klar, ob Erdogan vor starken Stimmenverlusten steht, die seine Ambitionen in Gefahr bringen könnten. Nach Ansicht des Meinungsforschers Adil Gür muss sich Erdogan keine allzu großen Sorgen machen. "Ich erwarte keine Einflüsse des Unglücks auf die Entscheidungen der Wähler", sagte Gür der Deutschen Welle. Außerdem habe Erdogan nach Soma aus Sicht seiner Anhängerschaft auch richtige Entscheidungen getroffen: "Die Ausrufung der dreitägigen Staatstrauer kam bei den Leuten gut an."
"Für eine Handvoll Kohle geben sie ihr Leben", steht auf einer Steintafel mit zwei gekreuzten Spitzhacken, die am Krankenhaus von Soma schon lange angebracht ist. Weil man dort Erfahrung hat mit den Krankheiten, die der Bergbau verursacht. Der ehemalige Bergwerksarbeiter Canar Karamfi ist einer von wenigen, die sich trauen, die Zustände im Kohlebergwerk anzuprangern. Denn er hat seinen Job vor zwei Monaten "wegen der unerträglichen Arbeitsbedingungen" gekündigt, lebt jetzt im 240 Kilometer entfernten Istanbul und arbeitet als Elektriker.
Nach dem Unglück ist er gleich zurückgekommen, um seinen Kumpeln beizustehen. "Die Sicherheitsstandards interessieren im Management der Soma Holding niemanden", sagt Karamfi. "Die wollen nur so viel Geld wie möglich machen." Die Arbeit sei die Hölle. „Es ist viel zu heiß, überall Dampf, zu wenig Sauerstoff. Ich hatte oft Atemnot. Und dann wird das auch noch extrem schlecht bezahlt.“ Die Kumpel verdienen je nach Alter zwischen 800 und 1300 Lira im Monat, das sind umgerechnet 280 bis 460 Euro.
Den Bergleuten bleibt aber keine Wahl. In der Stadt mit 105.000 Einwohnern ist der Arbeitsmarkt ziemlich angespannt. "Mein Schwager sagt, er muss zurück in die Zeche, denn sie brauchen das Geld“, sagt etwa Mehmet Asher. "Er hat noch zwei Jahre bis zur Pension. Er muss da wieder runter." Der Schwager hat überlebt, war zehn Stunden in der Grube eingeschlossen, umgeben von Feuer und Rauch. Weil der Strom ausfiel, versagte auch die Belüftung der Stollen. Mindestens 100 Bergarbeiter wurden am Donnerstag noch vermisst, während die ersten Familien ihre Väter und Brüder begruben.
Viele Bergleute haben Schulden, weil sie mit ihrem Gehalt nicht Miete, Stromrechnung und Schulgeld bezahlen können. Die Regierung habe in Soma Unsummen für eine neue Veranstaltungshalle ausgegeben. „Warum haben sie das Geld nicht in mehr Sicherheit investiert?", fragt eine wütende Frau. "Da macht man einen der schwersten Jobs der Welt, und dann kann man nicht einmal davon leben", sagt ein junger Mann namens Tosun, der einen Handyladen betreibt. "Sie kaufen die Telefone auf Pump. Was sollen sie auch sonst machen?", fragt er. Seiner Meinung nach werfen die Banken den Kumpeln die Kreditkarten nach, fast jeder Bergmann habe zwei oder drei. Dabei müsse jeder, der krank ist, oder aus anderen Gründen nicht zur Arbeit erscheint, mit Lohnkürzungen rechnen. Der einzige Ausweg sei, wegzuziehen.