Politik/Ausland

"Entwicklung in Türkei ist rechtsstaatlich unerträglich"

"Es gibt keinen Zweifel: Die Türkei ist auf dem Weg zum Unrechtsstaat." Justizminister Wolfgang Brandstetter findet im Gespräch mit dem KURIER mehr als deutliche Worte über die gegenwärtige Lage in der Türkei, was Demokratie und Menschenrechte betrifft. Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli sind im Zuge der Notstandsgesetze mehr als 35.000 Menschen verhaftet worden, Zehntausende wurden aus dem Staatsdienst entlassen, unter ihnen auch Mitglieder des Verfassungsgerichts.

Bis zu 400 Beschwerdebriefe täglich

Der Minister beruft sich bei seiner Beurteilung einerseits auf Berichte, die er über die Richtervereinigung von Richtern und deren Verwandten aus der Türkei erhält – soferne sie überhaupt noch berichten können und nicht entlassen oder festgenommen wurden. Und er erzählt von seinem Besuch beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zu Beginn dieser Woche: "In der Poststelle dort landen jeden Tag 200 bis 400 Beschwerdeschreiben aus der Türkei. Das muss man gesehen haben: Beschwerden über die Situation, Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen, Beschwerden über Festnahmen – die Entwicklung in der Türkei ist rechtsstaatlich unerträglich."

Die Einschätzung des Ministers deckt sich mit dem, was der Europarat in Straßburg vergangene Woche – weitgehend unbeachtet – in einem Bericht festgestellt hat. Zwar habe die türkische Regierung nach der "gefährlichen, bewaffneten Verschwörung" gute Gründe gehabt, den Ausnahmezustand zu verhängen, befand die sogenannte Venedig-Kommission (ein Gremium renommierter Verfassungsrechtler aus 60 Staaten). Doch die im Zuge der Notstandsgesetze verhängten Maßnahmen gingen über das hinaus, was die türkische Verfassung und das Völkerrecht erlaubten.

Vernichtender Europarats-Bericht

Beanstandet wird unter anderem, dass Zehntausende Beamte entlassen und nicht zunächst vorübergehend vom Dienst suspendiert wurden. Auch habe die Regierung in Ankara Vereine aufgelöst, anstatt sie zunächst unter staatliche Kontrolle zu stellen.

Insgesamt seien die Massenentlassungen nicht einmal von "einem Minimum" an rechtsstaatlichen Garantien begleitet gewesen – zumal die Betroffenen keine Möglichkeit hätten, dagegen Beschwerde einzulegen. Die Regierung benutze die Notstandsgesetze, um vermutete Gegner pauschal in Misskredit zu bringen, heißt es in dem Bericht.

Die Venedig-Kommission räumte ein, dass manche türkische Beamte Verbindungen zu der Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen hatten, den die Regierung in Ankara für den Staatsstreich verantwortlich macht. Der Begriff "Kontakte" sei allerdings zu vage definiert worden, um "begründete Zweifel" an der Loyalität der Beamten zu erlauben.

Besorgt äußerten sich die Verfassungsrechtler auch über die mit den Notstandsgesetzen geschaffene Möglichkeit, Verdächtigte bis zu 30 Tage ohne richterlichen Beschluss in Polizeigewahrsam zu halten, zumal deren Zugang zu einem Anwalt ihrer Wahl eingeschränkt werden könnte.

"Zu all dem muss die Europäische Union klare Worte finden", sagt Brandstetter, ohne sich auf die politische Folgerung – Einfrieren der Beitrittsverhandlungen ja oder nein – einzulassen. "Das Europaparlament (das ein Einfrieren gefordert hat, Anm.) hat jedenfalls völlig recht, dass man die Situation thematisieren muss, denn in der Türkei wurde eine rote Linie überschritten." Europa dürfe sich nicht durch diverse Rücksichten bremsen lassen – er verstehe Menschen, die sagen, die EU reagiere zu wenig.