Politik/Ausland

Türkei: Der lange Marsch für Gerechtigkeit

Glühende Hitze, flimmernder Asphalt und nicht der leiseste Anflug einer leichten Brise. Der Sommer in der Türkei ist heiß und schwül. Dennoch marschiert ein ständig wachsender Tross von Menschen, den unwirtlichen Bedingungen trotzend, seit 27 Tagen von der Hauptstadt Ankara der Millionenmetropole Istanbul entgegen. Es sollen bereits 50.000 sein. Sie sind vereint in dem Ruf: "Recht, Rechte, Gerechtigkeit!", der immer wieder ertönt. Viele tragen T-Shirts oder Baseballkappen in den türkischen Nationalfarben Rot-Weiß, auf denen nur ein Wort geschrieben steht: "adalet" – "Gerechtigkeit".

Seit 15. Juni unterwegs

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Die Marschierenden sind trotz der Hitze und ihres ernsten Anliegens bester Stimmung. Manchmal bilden sich Grüppchen, die ein Lied singen, es wird gescherzt und gelacht. An der Spitze des Konvois läuft Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP. Er ist am 15. Juni spontan zu diesem "Marsch für Gerechtigkeit" aufgebrochen, nachdem sein Vize, der Abgeordnete Enis Berberoglu, am Vortag wegen des Vorwurfs der Spionage verhaftet worden war. Dem bis dahin eher phlegmatischen Politiker ist damals der Geduldsfaden gerissen, so entschied sich der fast Siebzigjährige, den langen Marsch von der Hauptstadt Ankara bis zur Haftanstalt im Istanbuler Stadtteil Maltepe anzutreten. Er will Gerechtigkeit für seinen Parteigenossen und alle in der Türkei zu Unrecht Inhaftierten fordern. Berberoglu war bis 2014 Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Hürriyet. Auf seine journalistische Tätigkeit stützt sich die Anklage, wegen der er jetzt seine parlamentarische Immunität verloren hat und hinter Gittern sitzt.

Doch seit Parteichef Kilicdaroglu auf dem Weg ist, hat die Aktion an Dynamik gewonnen. Es geht längst nicht mehr um die Person Berberoglu, es marschieren auch nicht nur stramme CHP-Anhänger mit, sondern Vertreter verschiedenster Gesellschaftsschichten, darunter Kurden und strenggläubige Muslime.

Fußvolk

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"Normalerweise kann ich keine 500 Schritte gehen, ich habe Eisenplatten im Rücken und künstliche Hüften", so Gülhayat, eine ältere Frau, die fast seit der ersten Stunde mit dabei ist. "Aber plötzlich ist alles wie weggeblasen." Ihren eigenen Marsch für Gerechtigkeit hat sie bereits vor langer Zeit angetreten, scheiterte aber an der Justiz. Seit Jahren fordert sie in einem Rechtsstreit mit dem Staat Gerechtigkeit, endlich verhallt ihr Ruf nicht ungehört bei den Justizbehörden, sondern wird im Chor weitergetragen.

Friedliche Proteste auf beiden Seiten

Der Konvoi wird von Polizeimannschaften bewacht, eine Sportkohorte muss mitlaufen und dafür sorgen, dass nichts passiert. Zwar drücken die meisten Passanten durch Applaus oder Hupen ihre Solidarität aus. Aber immer wieder lassen Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdoğan von der Gegenfahrbahn aus wilde Beschimpfungen los: "Schämt ihr euch nicht, noch dazu auf der Straße zu marschieren, die der Reis, unser Führer, für euch gebaut hat?", schimpft beispielsweise ein rotgesichtiger Bartträger, bevor ihn die Polizisten und die hinter ihm hupenden Autofahrer zur Weiterfahrt nötigen. "Da gibt es immer wieder welche!", sagt Erkan. Er marschiert seit Ankara mit und erzählt, dass vor einigen Tagen ein Erdoğan -Fan Gülle auf die Piste gekippt hat, um den Marschierenden zu zeigen, wie er ihre Aktion findet. "Bei uns ist es Tradition, den Gästen das anzubieten, was man selber isst. Wahrscheinlich deswegen", kommentiert eine Frau, Anfang 70, die Aktion mit der Gülle.

Frauenrechte

Es sind auffällig viele Frauen beim Marsch, die wenigsten sind jung. Bereits der Entscheidungskampf für das Verfassungsreferendum hatte ein sehr feminines Gesicht, so wie jetzt die Forderung nach Gerechtigkeit. Noch bevor die Frauen volle Gleichberechtigung erfahren durften, werden ihnen bereits erste Rechte wieder genommen. Das treibt sie auf die Barrikaden.

Die Etappen sind jeweils relativ kurz, in anderthalb Stunden bringt der geübte Tross sie hinter sich. Am Zielpunkt werden Speisen und Getränke verteilt, es gibt Sitzmöglichkeiten und viel Raum zum Kennenlernen und Austauschen. Aus einem Lautsprecher dröhnt abwechselnd Bella Ciao und der Izmir-Marsch, eine Hymne zu Ehren von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk.

Ziele

Erkan ist begeistert von der tollen Stimmung und schwärmt von der Atmosphäre während des Marsches. Immer wieder kommt er mit anderen ins Gespräch, mal um über die derzeitige Politik zu schimpfen, mal um mit den Mitstreitern zu scherzen. Was sein wird, wenn am Sonntag das Ziel in Maltepe, wo eine Demonstration mit bis zu 1,5 Millionen Teilnehmern stattfinden soll, erreicht ist, weiß er auch nicht. "Aber was immer Kilicdaroglu fordert, ich werde es tun", sagt er.

Dynamik

Der Entschluss Kilicdaroglus, für Gerechtigkeit zu marschieren, dürfte ziemlich spontan gewesen sein. Allerdings sammelt er damit Schritt für Schritt die Anerkennung aus einem breiten politischen Spektrum. Wenn es ihm gelingen sollte, die Dynamik dieses Marsches aufrecht zu halten und nutzbar zu machen, könnte das dem Geschick des Landes eine Wende geben. Oder sie verpufft wie die wochenlangen Demonstrationen im Jahr 2013.