Wut auf den Staat, nicht den Islam
Während Österreich und halb Europa nach den Terroranschlägen über einen möglichen neuen Umgang mit dem Islam diskutiert und mancherorts der Hass auf diese Religion kaum mehr Grenzen kennt, sucht man dieses Thema in belgischen Medien und auf den Straßen Brüssels vergebens. Auf Seite drei rechts unten im sechsten Absatz der großen Tageszeitung Le Soir taucht erstmals das Wort "islamistisch" auf. Einmal in den gesamten Terror-Berichten.
Auch Hasspostings findet man auf den Facebookseiten der Belgier nirgends. Obwohl das Land mit 250.000 Muslimen eine der Hochburgen dieser Glaubensrichtung ist und der häufigste Name im vorigen Jahr in Brüssel Mohamed gewesen ist. Vielleicht auch gerade deswegen hat man hier ein differenzierteres Bild als in Resteuropa.
Andere "Islamisierung"
"Die Belgier sprechen längst nicht mehr von der Radikalisierung des Islam, sondern von der Islamisierung der Radikalität", sagt Irene Zeilinger, eine Österreicherin und Soziologin, die seit 16 Jahren im Brüsseler Problembezirk Molenbeek arbeitet (ein ausführliches Interview mit ihr dazu lesen Sie im Sonntag-KURIER). "Die Leute unterscheiden sehr wohl, dass die Attentäter erst kurz zuvor zum Islam konvertiert sind. Sie sind eigentlich fast alle Verbrecher gewesen und vorher bereits in Haft gesessen." Die Terroristen vereinte nur eines: Die Hoffnungslosigkeit, die fehlende Zukunft.
"Die Opfer sind bereits im Paradies, wogegen diese Idioten von Terroristen in der Hölle für die Ewigkeit schmoren", kommentiert Jean Marbois die Anschläge. "Muslime sind keine Terroristen, genauso wenig wie Priester Pädophile sind. Egal, woran man glaubt, es gibt kein Recht jemanden zu töten", schreibt Yassine Baroui unter einen Zeitungsbericht zornig.
"Sie träumen von ihren 72 Jungfrauen, und sie denken, sie gehen in den Himmel. Doch sie sind wie Dutroux. Es ist die Gier nach Macht über die Schwächsten. Das sind Feiglinge", meint Linda Kekenbosch.
Der Name Dutroux fällt nun wieder häufiger und erreichte am Freitag auch erstmals die Leitartikel der lokalen Medien. Der zu lebenslanger Haft verurteilte Pädophile hat zahlreiche Kinder entführt, missbraucht und ermordet. Eine Pannenserie in Justiz und Polizei begünstigte dies sogar. Der Fall wurde in den 90er-Jahren zu einem Trauma Belgiens. Nun folgt das zweite, das tiefe Narben hinterlassen wird.
Auch diesmal werden bereits erste Rufe nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss laut, die Rücktritte von Ministern werden immer heftiger gefordert. Premierminister Charles Michel ist ebenfalls angezählt, seine sorgenvollen Blicke, als er am Donnerstag mit Blaulicht-Konvoi in seinen Amtssitz in der Rue de la loi Nummer 16 fuhr, sprachen Bände. Es ist – Zufall oder nicht – die gleiche Straße, in der (rund drei Gehminuten entfernt) die U-Bahn-Station Maalbeek liegt, in der vermutlich 20 Menschen bei dem Anschlag getötet worden sind. Dass es in der Stadt Brüssel sechs verschiedene Polizeistrukturen mit sechs lokalen Zonen-Kommandanten gibt, macht alles nicht leichter. Das sind Gründe, warum die Adresse Abdeslams nicht weitergeleitet wurde und seine Verhaftung misslang. Es sind solche Fehler, die man vom Fall Marc Dutroux kennt.
Trügerische Ruhe
In der Nacht auf Freitag kreisten jedenfalls wieder die Polizeihubschrauber über der Stadt. Hört man diese, dann weiß bereits jeder hier, dass in einigen Stunden wieder neue Verhaftungen verlautbart werden.
Die Herabstufung auf die Terrorwarnstufe drei führte am Freitag Vormittag zunächst zu einer sichtlichen Entspannung in der Brüsseler Innenstadt. Die Soldaten vor der EU-Kommission wurden abgezogen, auch die U-Bahn-Stationen werden nun nicht mehr durchgehend von schwer bewaffneten Polizeieinheiten bewacht. Etwas mehr als die Hälfte der Stationen sind nun wieder in Betrieb, nur das EU-Viertel und der Westen der Stadt sind vorerst weiterhin nur mit den Ersatzbussen erreichbar.
Mitten in die Entspannung gab es am Freitag erneut Explosionen und Festnahmen im Stadtteil Schaerbeek und die Evakuierung einer Metro-Station. Wieder heulten Polizeisirenen in der Brüsseler Innenstadt auf, wieder kreisten die Hubschrauber. Es scheint, als ob die belgische Hauptstadt noch nicht zur Ruhe kommen könnte.