Türkei griff Stellungen der PKK an
Die Konflikte in der Region werden immer mehr zum Flächenbrand - nun eröffnete die Türkei offenbar eine neue Front: Türkische Kampfjets haben am Montag Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten der Türkei angegriffen, berichtete die Zeitung Hürriyet am Dienstag in ihrer Onlineausgabe. Demnach handelte es sich um die erste bedeutende Militäroperation aus der Luft seit Beginn des Friedensprozesses vor zwei Jahren. Den Angaben zufolge wurde der PKK durch die Angriffe "größerer Schaden" zugefügt. F-16- und F-4-Kampfjets seien im Bezirk Daglica im Einsatz gewesen.
Zuvor habe die PKK drei Tage lang einen militärischen Außenposten in der Provinz Hakkari nahe der irakischen Grenze beschossen. Seitens des türkischen Militärs lag vorerst kein Kommentar zu dem Bericht vor.
Die PKK hat der Türkei nun jedenfalls eine Verletzung der Waffenruhe vorgeworfen. "Diese Angriffe haben die Waffenruhe verletzt", teilte der bewaffnete Flügel der PKK am Dienstag mit.
Friedensprozess gefährdet
Die Beziehungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung hatten sich in den vergangenen Wochen massiv verschlechtert (siehe unten). Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan hatte unlängst mit einem Abbruch des Friedensprozesses gedroht, sollte Kobane, direkt an der türkischen Grenze gelegen, vom IS erobert werden. In den vergangenen Tagen gab es in der Türkei teils gewaltsame Demonstrationen von Kurden, die ein Eingreifen des türkischen Militärs verlangen. 37 Menschen kamen bei den Protesten ums Leben.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan meinte in seiner Heimatstadt Rize, es seien Vandalen und Plünderer am Werk gewesen. Angriffsziel der PKK und ihrer "Marionnettenpartei" seien die heiligen islamischen Werte. "Wer von unseren kurdischen Brüdern das Gebet verrichtet und einen konservativen Lebensstil verfolgt" werde von diesen als Anhänger der Dschihadistenmiliz IS verunglimpft. Dies gehe bis zur Lynchjustiz.
Luftangriffe durch Anti-IS-Allianz
Unterdessen würde sich die Allianz gegen die Islamisten-Organisation IS unter Führung der USA wünschen, die Türkei würde Angriffe anderer Art fliegen - oder zumindest zulassen. In Kobane werden die Kurden zunehmend vom IS eingekesselt. Wirkungsvolle Luftunterstützung hätten die kurdischen Verteidiger, wenn die USA ihre Luftangriffe von der 260 Kilometer von Kobane entfernten, türkischen Luftwaffenbasis Incirlik starten könnten. Dies aber verweigert die Führung in Ankara. Auch am Montag blieb die türkische Regierung verhalten: Man verhandle noch mit den USA und anderen NATO-Staaten, hieß es. In Washington hatte man hingegen vorschnell verkündet, die Türkei habe grünes Licht für die Nutzung türkischer Luftwaffenbasen gegeben. Derzeit starten die US-Kampfflugzeuge von Stützpunkten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait und Katar. Diese Angriffe gingen auch am Dienstag weiter: Mindestens drei Stellungen der Dschihadisten wurden im Osten der Stadt getroffen.
Militärberatungen in Washington
Der IS soll inzwischen die Hälfte der einstigen Kurden-Hochburg Kobane kontrollieren. Nach Informationen der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte versucht der IS den letzten Fluchtweg aus Kobane zum türkischen Grenzübergang Mursitpinar zu erobern. Dann wäre die Stadt vollständig eingekesselt.
Militärchefs aus mehr als 20 Ländern wollen am heutigen Dienstag nahe Washington das weitere Vorgehen beraten. Rund zwei Monate nach Beginn der US-Luftangriffe auf IS-Stellungen ist es das erste Treffen dieser Art. Auch US-Präsident Obama soll dabei sein.
Rückzug der Armee
Während die Welt auf Kobane blickt, rückt der IS an anderen Fronten weiter militärisch vor. In der westirakischen Provinz Anbar eroberten die Milizen das Armeehauptquartier der Stadt Heet. Wochenlang hatte es schwere Gefechte gegeben. Schiitische Milizen waren der irakischen Armee zu Hilfe gekommen – vergeblich. Im Nordirak hat der IS laut einem Medienbericht erneut rund 10.000 Jesiden eingekreist. Damit seien die letzten Fluchtwege aus dem Sindschar-Gebirge abgeschnitten. Tausende Frauen und Kinder waren den IS-Kämpfern im Sommer bei der Eroberung der Sindschar-Region in die Hände gefallen. Einige Mädchen, die sich aus ihrer Gefangenschaft ins Kurdengebiet im Nordirak retten konnten, erzählten, sie alle seien zwangsverheiratet worden. In einem Propagandablatt prahlt der IS damit, Frauen und Kinder aus der Minderheit der Jesiden versklavt zu haben. In der Zeitschrift Dabik heißt es, die Versklavung von Jesiden, die vom IS als "Teufelsanbeter" angesehen werden, sei die "Wiederbelebung" einer islamischen Tradition und lasse sich aus dem Scharia-Recht herleiten.
Doch auch die IS-Gegner dürften Menschenrechtsverletzungen begehen: Amnesty International erhebt schwere Vorwürfe gegen schiitische Milizen im Irak. Die Gruppen, die aufseiten der Regierung in Bagdad kämpfen, würden schwere "Kriegsverbrechen" begehen. Die Gruppen hätten als Vergeltung für den IS-Vormarsch dutzende sunnitische Zivilisten entführt und ermordet. Viele Geiseln würden weiter vermisst und teilweise seien Entführte ermordet worden, obwohl das Lösegeld gezahlt wurde, erklärte Amnesty. "Die wachsende Macht der schiitischen Milizen hat zu einer allgemeinen Verschlechterung der Sicherheit und zu einer Atmosphäre der Gesetzlosigkeit beigetragen". Die Milizen würden den Kampf gegen den Terror als Vorwand für Angriffe auf Sunniten nutzen.
Mit dem 2013 angekündigten Rückzug ihrer Kämpfer aus der Türkei wollte die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK das Ende des blutigen Konflikts einleiten, ein Friedensprozess wurde gestartet. Dem Schritt waren Gespräche zwischen dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan und Vertretern des türkischen Staates vorausgegangen.
Seit 1984 kämpfte die PKK für einen eigenen Staat der Kurden oder zumindest ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten blutige Angriffe und Bombenanschläge auf türkische Sicherheitskräfte verübt, die ihrerseits nach Einsätzen in den Kurdengebieten wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen kritisiert wurden. In dem Konflikt wurden mehr als 40 000 Menschen getötet.
Der Kurdenkonflikt und seine politischen Folgen galten als ein Haupthindernis für Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU. Im Zuge der EU-Beitrittsgespräche gab Ankara den Kurden mehr kulturelle Rechte, aber Zugeständnisse für mehr Autonomie blieben aus.
Die Europäische Union stuft die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen als Terrorgruppen ein. Der Nordirak ist bereits Rückzugsgebiet der PKK. Die Organisation unterhält dort mehrere Lager. Seit dem Ende der Herrschaft von Saddam Hussein können die irakischen Kurden ihre Angelegenheiten in einem autonomen Gebiet weitgehend selbst regeln.
PKK-Anführer Öcalan: Der Staatsfeind der Türkei
Washington drängt, Ankara steht auf der Bremse: Türkische Bodentruppen nach Syrien – kategorisch nein. Die Nutzung der nationalen militärischen Infrastruktur durch die internationale Allianz in ihrem Kampf gegen die Terroristen des "Islamischen Staates" (IS) – vielleicht. Das Ringen ging gestern weiter, auch darüber, ob 5000 Mann der gemäßigten syrischen Opposition im Land am Bosporus trainiert und ausgebildet werden sollen.
Wer zu diesen "gemäßigten" Kräften freilich zu zählen ist, darüber rätseln selbst Experten. Fix nicht dazuzurechnen dürften wohl aus türkischer Sicht die kurdischen Kämpfer sein, die derzeit Kobane gegen die selbst ernannten IS-"Gotteskrieger" verteidigen. Denn diese sind Ankara ein Dorn im Auge, spätestens, seit sie drei selbst verwaltete Kantone etabliert und damit einen zweiten kurdischen De-facto-Staat vor der Haustüre (nach der kurdischen Autonomieregion im Nordirak) geschaffen haben.
Kobane als Symbol
Aus diesem Grund blockiert die Regierung in Ankara jede Hilfe für die eingeschlossenen und nur leicht bewaffneten Kurden-Verbände in Kobane. Nachschub an Kriegsgerät wie an Kämpfern wäre nur über die Türkei möglich, doch dort bleibt man unnachgiebig. Und man ist insgeheim gar nicht unglücklich über eine Schwächung der kurdischen "Volksschutzeinheiten" (YPG), unterhalten diese doch auch enge Kontakte zur und Unterstützung von der in der Türkei tätigen Kurden-Guerilla PKK, dem internen Staatsfeind Nummer eins.
Das treibt die mindestens 15 Millionen Kurden in der Türkei auf die Barrikaden. Sie werfen Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, die Kurden auf ganzer Linie schwächen zu wollen. Bei landesweiten Protesten starben in der Vorwoche 37 Menschen.
Kobane ist für die türkischen Kurden mittlerweile zu einem Symbol für ihren eigenen Freiheitskampf avanciert. Täglich werden getötete YPG-Männer und -Frauen über die Grenze gebracht, die bei den Beerdigungen als Märtyrer gleichermaßen beweint wie verehrt werden. Sollte Kobane fallen, drohe ein "riesiger Aufstand" der Kurden in der Türkei, der sich bis zu einem Bürgerkrieg auswachsen könnte, befürchtet die österreichische Grün-Abgeordnete Berivan Aslan, die selbst kurdische Wurzeln hat.
Doch Erdogan bleibt bei seiner harten Linie: Kobane geht uns nichts an. Auch im Land zieht er die Zügel wieder an. So bezeichnete er die kurdischen Teilnehmer der Demonstrationen der Vorwoche, die in einer Gewaltorgie endeten, als "Vandalen, Barbaren und Feinde der Demokratie". Wieder einmal (wie bei den Gezi-Protesten 2013) sieht er eine Verschwörung, hinter der die PKK, das Assad-Regime, die internationale Presse und sein in den USA lebender Gegenspieler Fetullah Gülen stünden. Das Parlament werde diese Woche schärfere Gesetze beschließen, um den "Gaunern" in den Straßen das Handwerk zu legen. Das kommt einer Kampfansage an die Kurden gleich.
Damit steht auch der ohnehin schleppende Friedensprozess zwischen Ankara und der PKK knapp vor dem Aus. Der bei Istanbul inhaftierte Ex-PKK-Chef Abdullah Öcalan, der seine früheren Kampfgenossen ohnehin nur mühsam auf den Dialog hatte einschwören können, ließ aus seiner Zelle wissen: Sollte Kobane fallen, bedeutet dies das Ende der Gespräche. Sein hoher Kommandant im Feld, Cemil Bayik, drohte offen mit der Wiederaufnahme der Guerillatätigkeit.