"Die Moderaten wurden betrogen"
Von Stefan Schocher
Die Hubschrauber fliegen zu hoch, um sie treffen zu können. Ihre Last lassen sie aus sicherer Höhe fallen: Fassbomben, die ganze Wohnblöcke in Schutt legen. Manchmal sind es eine Handvoll, manchmal Dutzende an einem Tag – Alltag in Aleppo, einer Stadt, die nach drei Jahren Krieg in Ruinen liegt. Zu einer "Stadt des Todes" ist Aleppo geworden, wie Aktivisten sagen. Geteilt in zwei Hälften – im Osten syrische Rebellenverbände, im Westen die syrische Armee.
"Es gibt noch Revolutionäre, aber es ist längst nichts anderes als ein Krieg", so die syrische Bloggerin Razan Ghazzawi über das, was sich in Syrien abspielt. Und in diesem Krieg hätten die Syrer vor allem eines herausgefunden: Dass es einen Haufen Probleme zwischen sozialen und ethnischen Gruppen gibt und immer gab. Probleme, die sich jetzt in beispiellosem gegenseitigen Hass und Rassismus entladen würden.
Und während in den kurdischen Gebieten Selbstverteidigungseinheiten mit US-Luftunterstützung gegen den IS kämpfen, fallen immer mehr Fassbomben auf den Osten Aleppos – quasi im Windschatten des US-Kampfes gegen den Terror. Im ganzen Land hat die syrische Luftwaffe eine zuvor nicht dagewesene Kampagne von Luftangriffen gestartet.
Die Freie Syrische Armee (FSA), an sich Hoffnungsträger des Westens im Kampf gegen den IS und Assad, wird dabei langsam, aber sicher im ganzen Land zwischen den Fronten zerrieben – unterversorgt, schlecht ausgerüstet, von außen nur mäßig unterstützt und letztlich in interne Streitigkeiten zwischen Säkularen und Religiösen mehr und mehr zersplittert.
Eingekesselt
Der von Rebellen gehaltene Teil Aleppos steht knapp davor, von Regimetruppen eingekesselt zu werden. Die einzige Straße aus der Stadt liegt zum Teil bereits in der Reichweite von Scharfschützen der Armee. Weiter nördlich wiederum gibt es auf breiter Front Kämpfe zwischen FSA-Verbänden und dem IS. Versuche des IS, in Aleppo selbst breit Fuß zu fassen, scheiterten bisher weitgehend. Aber der El-Kaida-Ableger Al-Nusra-Front ist mehr und mehr präsent. Sollte sich aber wiederum El Kaida mit dem IS verbünden, wie jetzt berichtet wurde, würde Al-Nusra unter IS-Kommando fallen – mit wohl fatalen Folgen für die FSA nicht nur in Aleppo, sondern auch in Gebieten im Süden Syriens.
Seit zwei Jahren harren die FSA-Verbände in den von ihnen gehaltenen Vierteln in Aleppo aus. Mit Al-Nusra gab es wie auch anderswo eine lose militärische Kooperation, die vor allem aber auch wegen ideologischer Differenzen mehr schlecht als recht funktionierte.
Seit zwei Jahren hat sich am Frontverlauf in der Stadt kaum etwas geändert. Stellungskrieg in Wohngebieten. Dabei zieht es die Menschen gerade jetzt vor allem an die Front: Denn dort explodieren weniger Fassbomben. Zu groß ist das Risiko für die Armee, eigene Verbände zu treffen. "Es gibt kaum Strom, die Versorgung mit Wasser ist etwas besser", erzählt Ismail. Er ist bei den White Helmets aktiv, einer Organisation, die vor allem eines tun: Menschen nach Luft- oder Artillerieangriffen aus Trümmern bergen und erstversorgen. All das in einer Region, in der alle staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind, es kein Bergegerät gibt und die medizinische Versorgung miserabel ist. "Aufbau ziviler Strukturen" nennt Ismail das optimistisch. Hunderte Aktivisten sind in Syrien für die White Helmets aktiv. "Ich will mich nicht ums Kämpfen kümmern, ich will mich um Menschen kümmern", sagt er. Ziviler Widerstand also. So wie ihn auch die Bloggerin Razan Ghazawi für sich gewählt hat. Sie lebt mittlerweile in der Türkei. Syrien ist zu gefährlich geworden. In der allgemeinen Verrohung des Konflikts verlieren gerade solche Leute an Boden.
Der Aufstieg der Islamisten resultiere aus dem zögerlichen Verhalten des Westens, moderate Gruppen zu unterstützen, ist Razan Ghazawi überzeugt. Die Moderaten wie sie sagt, seien vom Westen betrogen worden. Und die quasi Arbeitsteilung zwischen der internationalen Allianz, die IS-Gebiet bombardiert, während sich die syrische Luftwaffe voll der FSA widmen kann, stößt bei syrischen Aktivisten durchwegs auf völliges Unverständnis.
In Aleppo geht es nicht mehr um Gebiete oder Häuserzeilen. Zu festgefahren sind die Fronten. Es geht ums Überleben des moderaten Armes der Rebellion gegen Assad.