"Schlaue Leute planen Revolutionen, böse benutzen sie"
Von Stefan Schocher
Maksim Butkevych ist alles andere als ein Kämpfer. Er ist üblicher Weise auch alles andere als ein nervöser Mensch. Aber heute ist er beides. Helm und Schutzweste trägt er und seine Hände zittern, bei der letzten Zigarette bevor es losgeht. Mit einem Dutzend Aktivisten und Anwälten marschiert er aus einem Innenhof im Zentrum Kiews ums Eck in die Einwanderungsbehörde ein, um sie zu besetzen und Dokumente zu sichern. Akten, die die Biografien von Asylwerbern dokumentieren und ihren legalen Status absichern. Das ist Maksims aktivistisches Feld. Er ist ein Aktivist der No-Border-Bewegung. Und mit der Besetzung geht für ihn, wie er sagt, „ein Traum in Erfüllung“. Alles geht friedlich vonstatten. Aber wie gesagt: Maksim ist eben kein Kämpfer.
Im Regierungsviertel Kiews jedoch, da stehen solche. Und das Auftreten des Rechten Sektor sorgt bei Aktivisten wie jenen um Maksim für zunehmende Besorgnis. Vor allem der Umstand, dass Gerüchten zufolge Waffen zirkulieren, die aus staatlichen Arsenalen stammen sollen. Aber auch, dass gerade jetzt durch die Kontrolle wichtiger Regierungsgebäude, zahlreiche Akten und damit Wissen und Macht in die Hand einer undurchsichtigen Organisation wie dem Rechten Sektor gelangen könnten.
„Schlaue Leute planen Revolutionen, Romantiker führen sie aus und böse Menschen benutzen sie“, so der Kommentar einer Quelle im ukrainischen Sicherheitsdienst SBU über die derzeitige Situation.
Der wohl signifikanteste Effekt dieser Revolution ist das komplette Misstrauen der breiten Masse in die Behörden und noch viel mehr in Politiker. „Diese Leute haben völlig verkannt, worum es geht“, sagt ein Mann, der von sich selbst behauptet, gemäßigter liberaler Nationalist zu sein über das Palaver im Parlament. „Keiner dieser Menschen, die hier in Kiew gestorben sind, sind für die gestorben.“ Er meint die Politikerkaste. Aber bei allem Ärger herrscht zugleich auch durchaus Zuversicht, dass es kein Politiker in der Ukraine jemals wieder schaffen werde, eine solche Machtfülle wie Janukowitsch zu erringen.
Spieß umgedreht
In diesem Klima erwachsen neue politische Projekte. So sind Beobachter sicher, dass der Rechte Sektor einen politischen Arm entwickeln wird – mit allerdings noch völlig unklaren Aussichten, wie ein Programm dieser Gruppe aussehen könnte.
Den Spieß habe man umgedreht, so eine junge Frau im Regierungsviertel auf dem Weg ins Büro. Seien die Menschen bisher von der Politik regiert worden, so würden die Menschen jetzt die Politik regieren. Nachsatz: „Mal sehen, wie lange das anhält.“
In Maksims Kreis dominieren gemischte Gefühle. Oleksandr, ein Soziologe, sagt: Natürlich berge der derzeitig allgegenwärtige Nationalismus gewisse Risiken, aber letztlich sei er der ganzen Revolution doch nur als symbolischer Überbau verpasst worden. Im Kerne ging und gehe es um ganz andere Dinge wie Korruption und Menschenrechte und eine Hymne zu singen sei noch keine Untat. Letztlich aber könne der nationalistische Tonfall sogar eine vereinende Wirkung haben zwischen Ost und West, so Oleksandr.
Klingt grotesk, ist es aber nicht: In Lemberg wurde am Mittwoch ein „Russisch-Tag“ ausgerufen – und in Donezk ein „Ukrainisch-Tag“. Ein bekannter Lemberger Buchverlag gab breit bekannt, erstmals in seinem 11-jährigen Bestehen ein Buch auf Russisch publizieren zu wollen. Das alles aus Protest gegen vor allem eine Maßnahme, die das Parlament in populistischem Feuereifer gleich nach der Machtübernahme umgesetzt hatte: Die Rücknahme eines Gesetzes, das Russisch zur zweiten offiziellen Staatssprache macht.
„Ja, es war ein Putsch“, sagt ein äterer Herr an einem Kiosk. „Ein notwendiger Putsch.“ Aber jetzt gehe es darum, die Lage zu normalisieren, einander die Hände zu reichen und nicht zu vergessen, dass wir alle nur Menschen sind.