Proteste gegen Erdogan politisieren die Türken
Wie jeden Morgen spaziert Handan Kirac mit ihrem Hund geradewegs ins Zentrum der Revolution hinein. Die sportliche 55-Jährige in Jogginganzug und Turnschuhen schaut am Nord-Ende des Gezi-Parks in der Innenstadt der türkischen Metropole Istanbul nach dem Rechten. Hier haben die Aktivisten, die den Park seit einer Woche besetzt halten, um die Abholzung der Bäume und die Errichtung eines Einkaufszentrums zu verhindern, nebeneinander drei kleine Stände aufgebaut. Am linken kann man Kleiderspenden für die Demonstranten abgeben, am mittleren Medikamente und am rechten Lebensmittel. Kirac steuert den rechten Stand an. „Jeden Morgen bringe ich den Jungs Frühstück“, sagt sie stolz.
Normalerweise hätte eine Dame aus der oberen Gesellschaftsschicht wie sie mit den meisten Leuten im Park nicht viel zu tun. Es sind Studenten, Arbeitslose, ein paar Akademiker und Tagelöhner. Junge Leute zelten im Park, um die Bäume zu schützen. Mit einem brutalen Polizei-Einsatz gegen die Park-Schützer begann vorigen Freitag die Protestwelle, die das ganze Land erfasst hat.
Mädchen ziehen mit Süßigkeiten, die von Unterstützern gespendet wurden, durch den Park und bieten sie den Demonstranten an. Einige kampferprobte Aktivisten zeigen ihre Gasmasken vor, andere sammeln Müll ein. Hin und wieder rufen die Regierungsgegner Parolen wie „Regierung, tritt zurück“ und singen die Nationalhymne. Die aktiven Mitglieder der Protestbewegung seien um die 15 bis 25 Jahre, die Unterstützer eher um die 50 Jahre alt, sagt ein älterer Geschäftsmann.
Eine Frage der Ehre
Die Nachricht von der Entschuldigung durch Erdogans Vize Bülent Arinc macht hier nicht viel Eindruck. „Wir wollen, dass Erdogan zurücktritt“, sagt ein junger Mann. Ein 80-jähriger Herr mit dem Bild von Staatsgründer Atatürk am Revers verspricht: „Und wenn alle wieder nach Hause gehen, ich bleibe hier.“ Die Leute klatschen.
Veränderungen wollen sie auf ihre Weise erreichen, nicht über eine politische Partei. Auf einer Wand in der Nähe des Parks hat jemand eine Formel gesprüht, der sich viele anschließen können: Die Protestbewegung sei muslimisch-fromm, patriotisch, Atatürk-treu und auch solidarisch mit den Kurden – aber ganz ohne Verbindung zu den jeweiligen Parteien, die für diese Ausrichtungen stehen.
Auch die Armee bleibt außen vor. Bei landesweiten Kundgebungen der Opposition gegen die Erdogan-Regierung 2007 riefen viele offen nach einem Putsch. Die Militärs haben schließlich vier türkische Regierungen im letzten halben Jahrhundert von der Macht verdrängt und stehen der islamisch-konservativen Truppe um Erdogan sehr skeptisch gegenüber. Doch diesmal ruft niemand nach der Armee. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Erdogan die Generäle weitgehend entmachtet hat, sondern die Protestbewegung empfindet sich als unabhängig und vor allem als stark genug: „Wir sind niemandes Soldaten“, rufen die Demonstranten im Park.
„Keine Schafe mehr“
Viele Aktivisten haben nur wenig mit Politik am Hut. Ein Manager, der wie Kirac Proviant bringt, hat festgestellt, dass viele hier „vorher völlig unpolitisch waren“ und nur aus Ärger über Erdogan aktiv wurden. „Jetzt sind sie politisiert, und das ist ein Gewinn für die Türkei. Die Türken sind keine Schafe mehr.“
Außenamt warnt: "Erhöhte Sicherheitsgefährdung"
Die anhaltenden Proteste schrecken die österreichischen Touristen den Reiseveranstaltern zufolge derzeit nicht von einem Türkei-Urlaub ab. Das Außenministerium ortet eine „erhöhte Sicherheitsgefährdung“ und rät, „in allen türkischen Städten größere Menschenaufläufe unbedingt zu meiden und weiträumig zu umgehen“ sowie die laufende Medienberichterstattung zu verfolgen. In Istanbul seien vor allem der Taksim-Platz und die in unmittelbarer Nähe befindlichen Hotels sowie die Stadtteile Besiktas und Beyoglu betroffen. Andere Reiseziele sind laut Reiseveranstaltern aber nicht betroffen.
Eine junge Frau in einem roten Sommerkleid steht auf einem Rasen. Links von ihr hat sich eine Phalanx behelmter Polizisten aufgebaut. Einer von ihnen besprüht die Frau offensichtlich mit einer kräftigen Dosis Pfefferspray, so dass ihr die langen schwarzen Haare zu Berge stehen. Zwei andere junge Frauen nehmen erschrocken Reißaus.
Das inzwischen im Internet weit verbreitete Foto wurde vom Reuters-Fotografen Osman Orsal im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul geschossen. Dort hatten die seit Tagen anhaltenden Demonstrationen gegen den islamisch-orientierten und autoritär agierenden türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan begonnen.
Das Foto der "Lady in Red" wurde inzwischen zu einem Symbol der Protestbewegung. So sind die jungen Frauen auf dem Bild nicht verschleiert - anders als etwa Erdogans Gattin. Die Dame im roten Kleid könnte gerade aus ihrem Büro gekommen zu sein, als sie Opfer der rüden Attacke wird. Die Vorgänge auf dem Foto symbolisieren für viele Beobachter das Verhältnis zwischen Staatsmacht und ihren Bürgern in der Türkei.
Das Bild wurde auch in einem Blog der an sich regierungsnahen Zeitung Today's Zaman veröffentlicht. Darunter schrieb der Autor Mahir Zeynalov: "Die derzeitigen Versuche, die Menge durch exzessive Gewaltanwendung zum Schweigen zu bringen werden nur viele andere dazu bewegen, sich dem Protestreigen anzuschließen."
Noch in der vergangenen Woche war es lediglich ein lokaler Protest gegen eine Städtebau-Projekt in Istanbul, inzwischen hat der Proteststurm in der Türkei mehr als 60 Städte erfasst. Eine Chronologie der Ereignisse:
28. Mai: In der Millionen-Metropole Istanbul gibt es eine Demonstration gegen den Bebauungsplan im Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes. Erdogans Partei will dort ein osmanisches Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert nachbauen und darin Cafés, Museen oder auch ein Einkaufszentrum unterbringen.
31. Mai: Die Polizei in Istanbul setzt Tränengas gegen mehrere hundert Demonstranten ein. Es gibt mindestens zwölf Verletzte.
1. Juni: Die Proteste in Istanbul werden gewalttätiger, die Demonstranten werfen Steine und Flaschen, die Polizei setzt Tränengas und Pfefferspray ein. Der Funken springt auf andere Städte über. Amnesty International spricht von hundert verletzten Demonstranten. Erdogan räumt "einige Fehler" im Verhalten der Polizei ein, die vom Taksim-Platz abgezogen wird. Dort rufen die Demonstranten nun auch: "Regierung, tritt zurück!"
2. Juni: Erste große Protestkundgebung in der Hauptstadt Ankara: Rund tausend Demonstranten versuchen zum Regierungssitz zu ziehen. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein. Amnesty International beklagt, mehrere Demonstranten seien durch das Tränengas erblindet. Die Angaben zur Bilanz der Auseinandersetzung gehen nun weit auseinander: Innenminister Muammer Güler spricht von 58 verletzten Zivilisten und 115 verletzten Polizisten landesweit. Er gibt die Zahl der Festgenommenen mit 1.700 in 67 Städten an. Menschenrechtsgruppen bilanzieren ihrerseits inzwischen 1.000 Verletzten in Istanbul und 700 in Ankara.
3. Juni: Präsident Abdullah Gül versichert den Demonstranten, ihre Botschaft sei "angekommen". Erdogan seinerseits will nicht zurückstecken und lehnt es vehement ab, in Anlehnung an den Arabischen Frühling nunmehr auch von einem Türkischen Frühling zu sprechen. In der Provinz Hatay wird laut dem Sender NTV ein 22-jähriger Demonstrant von einem Unbekannten angeschossen und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus stirbt.