Politik/Ausland

Nur ein kleiner Bruchteil aller Flüchtlinge kommt nach Europa

Es ist das beherrschende Thema in der EU seit fast drei Jahren: Flucht und Migration. Zunehmend ist der politische und mediale Diskurs von Angst denn von Mitgefühl für Flüchtende geprägt, immer wieder ist von einer "neuen Welle", "Krise" oder "Flut" die Rede. Und das, obwohl sich tatsächlich nur ein Bruchteil aller weltweiten Flüchtlinge in der EU befindet. In der gesamten Europäischen Union leben weniger Flüchtlinge und Asylwerber als beispielsweise alleine in der Türkei.

Weltweit gibt es aktuell fast 70 Millionen Menschen, die gewaltsam vertrieben wurden, wie der Bericht "Global Trends 2017" des UNO-Flüchtlingshochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) zeigt. Das sind um drei Millionen mehr als noch im Jahr davor. Die Zahl jener, die im vergangenen Jahr in der Europäischen Union einen Antrag auf Asyl stellten, sank indes um nahezu die Hälfte auf knapp 650.000.

Trotzdem steht Abschottung ganz oben auf der Agenda der allermeisten EU-Staats- und Regierungschefs. Nach wie vor streitet Europa zudem darüber, wie mit Menschen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind und den Weg bis in die EU geschafft haben, umgegangen werden soll. Solidarität oder nationale Alleingänge? Wo dürfen Schiffe mit im Mittelmeer Geretteten anlegen? Wo dürfen diese einen Asylantrag stellen? Wer ist für ihre Versorgung zuständig? Was passiert mit jenen, die bleiben dürfen? Und was mit jenen, die abgeschoben werden sollen? Auf unzählige Fragen gibt es bisher keine oder nur unzureichende politischen Antworten.

Großteil bleibt in Regionen

Fest steht jedoch, dass die EU im weltweiten statistischen Vergleich nur in geringem Ausmaß von Flüchtlingsbewegungen betroffen ist. Ein Großteil der Vertriebenen weltweit - 40 von den insgesamt knapp 70 Millionen - bleiben nämlich in der Region. So beherbergt beispielsweise Kolumbien 7,7 Millionen Binnenvertriebene - mehr als 15 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung sind also Flüchtlinge im eigenen Land. In Syrien sind es sogar über ein Drittel (über sechs Millionen Binnenflüchtlinge), in der Demokratischen Republik Kongo 5,3 Prozent der Bevölkerung (4,3 Millionen Binnenflüchtlinge).

Aber auch von jenen Flüchtlingen, die ins Ausland fliehen (28,5 Mio.), hält sich nur ein Bruchteil, nämlich rund 3,7 Millionen, in der EU auf. Neun von zehn Hauptaufnahmeländer sind laut UNO-Definition Entwicklungs- und Schwellenländer, Deutschland ist mit 1,4 Millionen einziges Industrieland in den Top 10. Mit Abstand am meisten Flüchtlinge und Asylwerber leben in der Türkei (3,8 Mio.), das entspricht 4,7 Prozent der türkischen Bevölkerung. Jordanien (2,9 Mio.), das Westjordanland samt Gazastreifen (2,2 Mio.) sowie der Libanon (1,5 Mio.) zählen ebenfalls zu den Top 5 der Aufnahmeländer.

Weniger dramatisch

Die Zahlen in EU-Ländern wirken dem gegenüber weniger dramatisch - sogar in jenen Ländern, die von Politikern gerne als Hauptzielländer im negativen Kontext präsentiert werden. Griechenland beherbergte 2017 rund 83.000 Flüchtlinge und Asylwerber, Italien knapp 355.000 und Spanien 54.000 - wobei bei Letzterem freilich anzumerken ist, dass die stark gestiegenen Ankünfte der vergangenen Monate hier nicht berücksichtigt sind. Auch in Österreich und Schweden bestätigt die Statistik das öffentliche Bild nicht: Laut UNO leben in der Alpenrepublik 172.570 Flüchtlinge und Asylwerber (etwa 115.000 anerkannte Flüchtlinge und 56.000 Asylwerber mit laufenden Verfahren plus 1.000 Staatenlose), in Schweden 328.000 (240.000 davon anerkannte Flüchtlinge). In Ungarn gar nur 6.500.

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung finden rund 85 Prozent aller Flüchtlinge und Asylwerber in Entwicklungsländern selbst Schutz. Die Hauptlast der globalen Migrationsbewegungen tragen also weder die EU, noch die Türkei oder die USA - es sind jene Länder, die zusätzlich zum Kampf gegen Armut und Hunger in der eigenen Bevölkerung nun auch die Versorgung von Millionen von Geflüchteten sicherstellen müssen.

Dass sich Europa zunehmend abschottet, ist nach Ansicht von Experten weder wirklich möglich noch sinnvoll. Denn Migration wird es wohl immer geben. "Migration ist eine Tatsache", sagt Mirsolav Lajcak, Präsident der UNO-Vollversammlung. Ähnlich William Swing, Chef der Internationalen Organisation für Migration (IOM): "Wir müssen erkennen, dass Migration kein Problem ist, sondern menschliche Realität." Realistischer wäre deshalb wohl, Migration als Chance wahrzunehmen und dies auch so zu kommunizieren, anstatt durch bestimmte Bilder und "Framing" von Botschaften Angst zu provozieren und das Thema so künstlich am Köcheln zu halten, um damit die eigene Machtposition zu untermauern.