Neue Waffen und alte Versprechen: Wie die NATO die Ukraine vertröstet
Eigentlich sollte man es sich gerade mit Gönnern nicht verscherzen, doch diesmal platzte Wolodimir Selenskij regelrecht der Kragen. „Absurd“ sei die gemeinsame Stellungnahme der NATO-Staaten, die seit Tagen – in einer vorläufigen Fassung – unter den zuständigen Regierungschefs herumgereicht wird, meinte er auf Twitter: „Eine Einladung an Russland, seinen Terror fortzusetzen.“
Vage Formulierung
Was den ukrainischen Präsidenten empört, ist die Haltung der NATO zu einem zukünftigen Beitritt der Ukraine zur westlichen Allianz, um die am Dienstag beim NATO-Gipfel im litauischen Vilnius gerungen wurde. Erst wenn sich „alle Verbündeten geeinigt haben und die Bedingungen erfüllt sind“, sei man in der Lage, die Ukraine in die NATO einzuladen.
➤Lesen sie mehr: Die "Bündnis-Träumereien" von NATO und EU
Eine bemerkenswert vage Formulierung, die ganz offensichtlich nicht der Parole entspricht, die NATO-Chef Jens Stoltenberg zur Eröffnung des Gipfels ausgegeben hatte: Es werde ein „klares Signal“ an die Ukraine geben, meinte der Norweger, das Land sei „viel näher an der NATO“ als andere Staaten.
Schnellverfahren
Hinter dieser schwer zu deutenden Mitteilung steckt zumindest ein klarer Plan: Sollte es für die Ukraine tatsächlich eines Tages soweit sein, dann soll das Land den Weg zur Mitgliedschaft im Schnellverfahren zurücklegen. Das sonst für die Aufnahme übliche, streng Punkt für Punkt abzuhakende Verfahren, bei dem es nicht nur um militärische Fragen, sondern auch um Rechtsstaatlichkeit und politische Transparenz geht, darf die Ukraine dann überspringen.
Wann aber ist dann?, fragen sich die Vertreter jener NATO-Mitglieder gerade im Osten Europas, die auf eine klare Beitrittsperspektive für die Ukraine drängen. So erinnern die Regierungschefs der baltischen Staaten daran, dass man die Ukrainer schon einmal quasi im NATO-Wartesaal stehengelassen habe – mit fatalen Konsequenzen. Beim NATO-Gipfel in Bukarest, 2008, hatten vor allem Frankreich und Deutschland im letzten Moment eine Einladung der NATO an die Ukraine verhindert, auf die die USA damals gedrängt hatten. „Einen der größten Fehler in der Geschichte dieses Jahrhunderts“, meinte kürzlich etwa die litauische Regierungschefin Ingrida Simonyte. Anders als die Ukraine sei ihr kleines Land – auch eine ehemalige Sowjetrepublik – nur deshalb nicht von Russland angegriffen worden, weil man eben in der NATO sei.
Panzer und Raketen
Statt mit klaren Entscheidungen warten viele der NATO-Regierungschefs in Vilnius mit neuen Waffenlieferungen für die Ukraine auf. So kündigt etwa Deutschland an, umgehend Waffen im Wert von 700 Millionen Euro in die Ukraine zu schicken, darunter auch die lange so umstrittenen Kampfpanzer vom Typ Leopard II. Frankreich wiederum kündigt eine Lieferung von Marschflugkörpern an, also Raketen, die von Kampfjets abgeschossen werden und eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern haben. Damit sind russische Militäreinrichtungen weiter hinter der Front und auch in Russland in Reichweite.
Umstrittene Streubomben
Die umstrittenste Waffe aber könnte vom wichtigsten Lieferanten der Ukraine kommen, den USA. Wie Präsident Joe Biden in London, zum Auftakt seiner Europareise, angekündigt hatte, wird man Bomben mit Streumunition an die Ukraine liefern: Eine international geächtete Waffe, die verheerende Schäden auf großer Fläche verursachen kann. Die europäischen NATO-Partner haben sich klar dagegen ausgesprochen.
Für Biden, der auch gegen einen klar abgesteckten Weg der Ukraine in die NATO ist, sind die Waffenlieferungen quasi eine andere Form der Sicherheitsgarantie. Nach dem Vorbild Israels will man das Land zuerst soweit aufrüsten, dass es den Krieg erfolgreich beenden kann. Dann erst kommt der NATO-Beitritt ins Spiel.
Doch dieser Erfolg scheint derzeit in weiter Ferne. Tschechiens neuer Präsident Petr Pavel jedenfalls, selbst ehemals hochrangiger NATO-General, gibt der Ukraine nur noch wenig Zeit zu siegen: Bis Jahresende nämlich, dann kämen Wahlen in den USA und der Ukraine, „und das Zeitfenster schließt sich.“